„Der Krieg hat begonnen, als ich ein kleiner Bub war“
Von Stefan Schocher
Lehmhütten reihen sich aneinander. Kinder treiben auf den Straßen alte Fahrradreifen vor sich her. „Hier werden wir immer wieder von Kindern mit Steinen beworfen“, sagt ein niederländischer Soldat. Khanabad ist der letzte Bezirk in der Provinz Kunduz, in dem die Kontrolle noch nicht von der ISAF (internationale Schutztruppe für Afghanistan) die afghanischen Sicherheitsbehörden übergeben wurde. Es ist ein Problembezirk.
Erst vor wenigen Wochen war der Polizeichef der Region Ziel eines Bombenanschlages. Er überlebte. Sein zertrümmerter Wagen steht noch auf dem Gelände des Polizeihauptquartiers, ein mit Stacheldraht und Wachtürmen geschützter Komplex in der gleichnamigen Hauptstadt des Bezirks. „Die Taliban sind das größte Problem hier“, sagt der stellvertretende Kommandant Shakrullah, „die El-Kaida-Leute – und einige Arbakis.“
Die Arbakis sind Milizen, Überbleibsel aus der Zeit der Mudschaheddin, die gegen die Sowjets kämpften. Die meisten wurden in lokale Sicherheitsbehörden eingegliedert. Tatsächlich haben die meisten Polizeieinheiten und ihre Kommandanten, die heute in Afghanistan tätig sind, eine solche Vorgeschichte. Doch manche sind noch nicht Teil der Polizei. Und das schafft Probleme.
Milizengewirr
In Khanabad gibt es nach den Worten von Shakrullah 81 lokale Kommandanten, die noch nicht in die staatlichen Strukturen eingegliedert wurden. Sie alle haben ihre eigene kleine Truppe. Zum Teil seien das Leute mit Kontakten in die höchsten Ebenen des afghanischen Staates. Und zum Teil würden sie in den Gebieten, in denen sie tätig sind, als lokale Polizei agieren. Nur eben abseits staatlicher Strukturen. Und zwischen den rivalisierenden Fraktionen – es geht vor allem um Einfluss und Macht – kommt es in dem Distrikt immer wieder zu Kämpfen.
Die ISAF versucht auf dem Verhandlungsweg eine Lösung zu erreichen. Der Plan lautet, dass es bis zum Frühjahr eine Einigung gibt. Tatsächlich soll Khanabad bis Februar oder März den afghanischen Behörden übergeben werden. Davor werden die Polizisten von einem holländischen Team noch in den verschiedensten Polizeimethoden geschult. Auch einen Lese- und Schreibkurs gibt es. Ein Holländer aber sagt: „Ich habe das Gefühl, wir verlassen diese Leute, es ist noch viel Arbeit zu tun – und es sind nur mehr wenige Monate.“
„Die ISAF hat entschieden zu gehen – sie wollen gehen“, sagt der Vize-Kommandant. Was kommendes Jahr geschehen wird, darüber will er keine Prophezeiungen anstellen. „Vielleicht wird es normal werden, vielleicht nicht.“ Und ob eine Lösung des Konflikts mit den Arbakis auch nach dem Abzug der Ausländer bestehen werde, könne er nicht sagen.
Auf die Bemerkung, dass Afghanistan die vergangenen 30 Jahre doch einige Kriege erlebt habe und der Kämpfe vielleicht überdrüssig sei, reibt er sich nur die Hände, lehnt sich zurück, lacht müde und sagt: „Nur Krieg. Der Krieg hat begonnen, als ich noch ein kleiner Bub war.“ Es folgt eine Pause. „Wissen Sie, die Menschen wollen in Frieden leben, wenn sie anfangen zu kämpfen, wird das Land zerfallen.“
KURIER: Nach 30 Jahren Krieg – glauben Sie, dass es 2014 Frieden geben wird?
Mohammad Anwar Jekdalek: Das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersagen. Der Krieg dauert ja noch an. Und unsere Feinde, wir wissen nicht, wie viele es sind, wer sie unterstützt. Das ist auch ein Problem.
Wer sind diese Feinde?
Die wahren Feinde Afghanistans sind jene, die Schulen zerstören, Brücken. Das sind die wahren Feinde.
Ist das eine Armee oder sind das Individuen?
Kleine Gruppen können nicht viel ausrichten, sie haben keine Unterstützung. Es sind Organisationen wie El Kaida oder die Taliban, die erhalten Hilfe aus anderen Ländern. Von unseren Nachbarn.
In der Provinz Ghazni gibt es einen Aufstand gegen die Taliban. Eine Miliz agiert außerhalb der regulären Sicherheitskräfte, wird aber von der Regierung unterstützt.Besteht da nicht ein Risiko, dass neu Gruppen entstehen, die letztlich den Staat schwächen?
Ich kenne diese Gruppe nicht. Aber wenn es sich um einfache Leute handelt, die gegen die Taliban kämpfen, dann müssen sie vom Staat unterstützt werden. Wir haben hier auch Leute, die gegen die Taliban kämpfen, und die werden unterstützt. Vom Staat und von der Regionalregierung. Wir haben diese Gruppen in die lokale Polizei eingegliedert.
Sind die afghanischen Kräfte stark genug, um Sicherheit zu garantieren?
Sie sind stark genug, um gegen die Taliban zu kämpfen. Wenn sie für das Land kämpfen, ist das gut. Aber eine Gefahr besteht: Dass sie letztlich für ihre ethnische Gruppe oder einen regionalen Führer kämpfen. Dieses Risiko besteht.
Besteht die Gefahr, dass Polizei und Armee in ethnische Gruppen zerfallen?
Das ist möglich. Aber wir haben noch Zeit bis zum Jahr 2014. Wir müssen daran arbeiten, eine afghanische Armee und Polizei zu schaffen, die auch wirklich ein Team ist.
Ihr Vorgänger wurde im Amt ermordet. Für Aufständische sind Sie ein Ziel. Haben Sie Angst?
Ich muss in erster Linie einmal arbeiten – und diesen Gegner bekämpfen durch meine Arbeit.
Wo sehen Sie Afghanistan in zehn Jahren?
Wenn wir im Jahr 2014 (Präsidentenwahlen, Anm. d. Red.) faire Wahlen haben und eine gute Führung wählen, die auch für die Einheit der Menschen arbeitet, dann wird der Krieg enden. Und dann wird es gut werden.
Waren die vergangenen Wahlen nicht fair?
Ich habe das Gefühl, dass die nächsten Wahlen gut und fair verlaufen werden.
An der internationalen Schutztruppe für Afghanistan gab es immer wieder Kritik, dass sehr viel Geld in Regionen fließt, in denen es Probleme gibt, während ruhige Gebiete vergleichsweise wenig bekämen. Gibt es da ein Ungleichgewicht?
Sowohl im Süden als auch im Norden hätten die Menschen gerne mehr Projekte. Aber es gibt da nicht wirklich einen Unterschied. Ich sehe ihn nicht.
Stimmt der Vorwurf, viele Probleme, viel Geld, keine Probleme, wenig Geld also nicht?
Nein, der Süden hat sehr viele Probleme und sehr geringe Mittel.