Politik/Ausland

Ägypten "im post-revolutionären Chaos"

Sie sollten ein Triumph für Millionen Ägypter werden - die ersten freien Wahlen des Landes. Doch knapp eine Woche vor dem Urnengang explodiert die Gewalt, knüppelt die Polizei die täglichen Proteste auf dem Tahrir-Platz auseinander. Mindestens 22 Menschen wurden bei den Protesten getötet, die sich gegen die Allmacht des regierenden Militärrates richten. Aus Protest gegen die Polizeigewalt trat gestern sogar Kulturminister Ghazi zurück.

Den ägyptisch-deutschen Politologen und Autor Hamed Abdel-Samad überrascht die Heftigkeit der Auseinandersetzungen nicht. Warum, das erklärt der 39-Jährige, der vor Kurzem als Gast der Organisation "Frauen ohne Grenzen" in Wien war, dem KURIER.

KURIER: Wo steht Ägypten heute, kurz vor den Wahlen?
Hamed Abdel-Samad:
Ägypten steht im post-revolutionären Chaos, was nur natürlich ist. Nach 30 Jahren Diktatur und so kurz nach der Revolution kann man nicht erwarten, dass alles am richtigen Platz steht. Die Revolution hat die schönsten, aber auch die hässlichsten Seiten Ägyptens ans Tageslicht gebracht, und jetzt kämpfen diese beiden Seiten gegeneinander. Die schönste Seite ist die Gewaltlosigkeit der Jugend, die auf dem Tahrir-Platz war. Die Frauen, die sich mutig auf dem Platz gezeigt und für ihre Rechte gekämpft haben. Es gibt jetzt über 50 neue Parteien, das ist extrem erfreulich. Die hässlichsten Seiten sind die alten patriarchalischen Strukturen, die alten religiösen Denkmuster.

Sind die Wahlen eine Chance für Ägypten?
Sie sind eine Chance - allein diese Erfahrung zu machen, zum ersten Mal das Gefühl zu haben: Meine Stimme zählt. Das ist für Frauen wichtig, für Männer, für Kopten, Christen, sie werden wissen: Es ist nicht egal, was ich sage. Für die Zukunft meines Landes wird auch meine Stimme zählen. Aber man kann nicht erwarten, dass aus dieser Wahl ein demokratisches System, eine lupenreine Demokratie entsteht. Eine Demokratie ist mehr als eine freie Wahl. Demokratie heißt Bewusstseinsbildung, die Neutralität des Staats, Gewaltenteilung und all das.

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Wie groß ist der Einfluss der Islamisten?
Es gibt viele Schattierungen bei den Islamisten: die alte Garde, die Jungen, auch Frauen. Es gab vor Kurzem eine Konferenz der Muslim-Schwestern, und sie haben gesagt: Von nun an lassen wir uns nicht mehr bevormunden. Muslimbrüder und Salafisten kommen zusammen auf 30 bis 35 Prozent, das heißt, alleine können sie nicht regieren. Allein wollen sie auch nicht regieren, denn sie wissen, allein können sie die Probleme des Landes nicht lösen. Die junge Generation lässt sich nicht mehr mit religiösen Botschaften abspeisen. Sie will ein funktionierendes Justizsystem.

Wer ist für die Übergriffe auf die christlichen Kopten verantwortlich?
Die Angriffe gegen die Kopten kamen bisher vom Militär und von den Salafisten, den streng religiösen Muslimen, die von Saudi-Arabien finanziert werden. Saudi-Arabien führt eine Konterrevolution gegen die freiheitsliebenden Ägypter. Die Saudis haben Angst, dass sich die Revolution auch in Saudi-Arabien ausbreitet, weil es auch in Saudi-Arabien vergleichbare Probleme gibt: 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, eine schiitische Minderheit. Die jungen Saudis fahren nach Wien, München, New York und sehen die freie Welt. Dann kehren sie zurück nach Saudi-Arabien und sehen, wie die Gesellschaft funktioniert, und sie schämen sich, dass sie in einem mittelalterlichen System leben. Und das wird nicht mehr lange so bleiben, egal wie wohlhabend das Land ist.

Wo wird Ägypten in fünf Jahren stehen?
Sagen wir lieber in zehn Jahren: Dann wird die Tahrir-Generation langfristig die arabische Revolution beeinflusst haben. Wenn die Wirtschaft nicht zusammenbricht, wenn die richtigen politischen Strukturen aufgebaut werden, dann wird in 10 bis 15 Jahren der ägyptische Barack Obama oder die ägyptische Indira Gandhi aus dieser Generation kommen. Ein fatales Szenario aber wäre, wenn die Wirtschaft zusammenbrechen sollte - und die Gefahr ist groß, weil ja Ägypten nur von vier Ressourcen lebt: Tourismus, ausländische Investitionen, Suezkanal und Landwirtschaft. Wenn die Touristen nicht wiederkommen, weil das Land nicht stabil genug ist, wenn die Investitionen nicht zurückkehren, wenn die Sicherheit nicht vorhanden ist, dass die Schiffe passieren können, dann kollabiert das Land innerhalb von drei oder vier Monaten. Denn es gibt keine Mittel, um 85 Millionen Menschen zu ernähren, geschweige denn Bildung für sie zu schaffen. Deshalb hoffe ich, dass die Regierenden jetzt das Richtige tun.