Unglück geschah "wegen russischer Unterstützung"
Weltweite Trauer und die Suche nach den Schuldigen dominieren nach der Katastrophe: Wurde die Maschine der Malaysia Airlines tatsächlich abgeschossen? Und wenn ja, wer trägt die Schuld am Tod der 298 Menschen an Bord von Flug MH 17? Russland und die Separatisten in den abtrünnigen Regionen Donezk und Lugansk beschuldigen die Ukraine, diese spricht von einem Terrorakt und beschuldigt offen Russland. Auch für die USA trägt Russland zumindest eine Mitschuld an der Katastrophe: Der Passagierjet ist nach US-Erkenntnissen von pro-russischen Separatisten abgeschossen worden. US-Präsident Barack Obama gab Freitagabend in Washington bekannt, dass die Rakete, die das Flugzeug abgeschossen habe, aus einem von Separatisten kontrollierten Gebiet abgefeuert worden sein soll. "Russland, die Separatisten und die Ukraine müssen sich an eine sofortige Waffenruhe halten", betonte Obama.
Kritik an Russland
"Das war kein Unfall. Das passiert wegen russischer Unterstützung", sagte Obama. Ohne diese sei es den Separatisten nicht möglich, "so zu funktionieren, wie sie funktionieren". Moskau habe "immer wieder" verabsäumt, die erforderlichen Schritte zur Deeskalation der Lage in der Ostukraine zu setzen. Der US-Präsident nahm seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin persönlich in die Pflicht. "Wenn Putin entscheidet, dass keine Waffen und keine Kämpfer in die Ukraine gelangen dürfen, dann wird das aufhören." Die USA seien in der Lage, ihre Sanktionen gegen Russland zu verschärfen, setzte Obama nach. Obama bezeichnete den Flugzeugabsturz als eine "Schandtat unaussprechlichen Ausmaßes". Und: "Wir werden sicherstellen, dass die Wahrheit ans Licht kommt."
Separatisten verantwortlich?
Vor einigen Tagen wurde über einen Twitterkanal, der den Separatisten zugeordnet wird, ein Foto eines angeblich aus dem Bestand der ukrainischen Armee erbeuteten Raketensystems zur Flugzeugabwehr veröffentlicht und kurze Zeit später wieder gelöscht (mehr zum Raketensystem siehe Hintergrund).
Verwechslung möglich
Nach dem Absturz hat der ukrainische Parlamentspräsident Alexander Turtschinow den Westen zu Waffenlieferungen aufgefordert. Die internationale Gemeinschaft müsse die prowestliche Führung mehr unterstützen im Kampf gegen pro-russische "Terroristen", sagte er am Freitag in Kiew.
Wladimir Putin und Angela Merkel forderten eine mehrtägige Waffenruhe, um den Fall genau zu untersuchen und Verhandlungen zuermöglichen. Die Separatisten in Donezk lehnten diese allerdings ab.
UNO-Sondersitzung
Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, deutete ebenfalls eine Verstrickung Russlands in den Abschuss von Flug MH017 an. Russland wies die Vorwürfe zurück. "Wir verweisen alle Schuld an die Regierung in Kiew", sagte Moskaus UNO-Botschafter Vitali Tschurkin.
Auch Power erklärte, dass die Boeing 777 am Donnerstag "wahrscheinlich abgeschossen" worden sei. Eine Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk sei offenbar aus von Separatisten kontrolliertem Gebiet abgefeuert worden. Power sagte außerdem, dass angesichts der Komplexität der Buk-Systeme eine "technische Unterstützung durch russisches Personal" nicht ausgeschlossen werden könne. Demnach sei es "unwahrscheinlich, dass die Separatisten das System ohne Mitwirkung von sachkundigem Personal wirksam bedienen könnten", sagte sie.
Die Sondersitzung des Sicherheitsrats war von Großbritannien beantragt worden. Die 15 Mitgliedsländer riefen in ihrer gemeinsamen Erklärung "alle Parteien" dazu auf, den Ermittlern "sofortigen Zugang" zu der Absturzstelle zu gewähren. Außerdem sprachen sie den Angehörigen der fast 300 Opfer und den betroffenen Ländern das Beileid aus. Zu Beginn der Sitzung hielten sie eine Schweigeminute ab.
Absturzort: OSZE-Mitarbeitern wurde Zugang verwehrt
Der OSZE geht es unter anderem darum, Zugriff auf einen der Flugschreiber der Maschine der Malaysia Airlines zu bekommen, der sich derzeit in den Händen der Aufständischen befinden soll. Ein zweiter soll angeblich von Rettungskräften gefunden worden sein.
181 Leichen geborgen
Bislang konnten 181 Leichen geborgen werden. Nach Angaben des Innenministeriums in Kiew wurden die sterblichen Überreste der Passagiere nach Charkow gebracht, wo sie in einem Labor identifiziert werden sollen. Die Separatisten wiederum kündigten an, die Leichen würden in Mariupol identifiziert. Die weiteren Aufräumarbeiten werden erschwert, da die Trümmer in großem Umkreis verstreut sind. Außerdem sind bewaffnete Separatisten in der Nähe. Abseits der Entwicklung um den Flugzeugabsturz dauerten die Gefechte in dem Konfliktgebiet an.
Keine Österreicher an Bord
Die Maschine der Malaysia Airlines war als Flug MH 17 um 12.15 Uhr von Amsterdam mit dem Ziel Kuala Lumpur gestartet. Insgesamt kamen dabei 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder ums Leben, darunter 189 Niederländer, 44 Malaysier, 27 Australier, 12 Indonesier, 10 Briten, je vier Belgier und Deutsche, drei Filipinos und je ein Kanadier und Neuseeländer. Österreichische Staatsbürger waren nach Erkenntnissen des Außenministeriums nicht auf dem Flug eingecheckt. Die betroffenen Länder forderten eine umfassende Überprüfung der Tragödie.
Einige Fluggesellschaften reagierten umgehend auf das Unglück und änderten ihre Flugrouten nach Asien. Inzwischen wurde der Luftraum über der Ostukraine gesperrt.
Die EU-Kommission hat das Krisengremium für die Europäische Luftfahrt (EACCC) einberufen. Die Gruppe sei aktiviert worden, um die Auswirkungen auf den Luftverkehr zu koordinieren, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Siim Kallas, am Freitag in Brüssel. Die Gruppe soll die Sicherheit von Flügen garantieren.
AUA-Flüge teilweise gestrichen
Die AUA (Austrian) hat am Samstag und Sonntag je zwei Ukraine-Flüge gestrichen. Betroffen seien Flüge nach Charkow und Dnjepropetrowsk, teilte ein AUA-Sprecher der APA am Freitagabend mit. Die am Freitag ebenfalls gestrichenen Flüge nach Rostow am Don und Krasnodar würden jedoch ab Samstag wieder aufgenommen. Die Flugrouten seien geändert worden. Insgesamt werde der ostukrainische Raum "weiterhin weiträumig umflogen", hieß es in einer Austrian-Aussendung. Passagiere, die für den Zeitraum zwischen 21. und 27. Juli gebuchte Tickets für Flüge von oder nach Charkow (Kharkiv) oder Dnjepropetrowsk (Dnipropetrowsk) haben, erhalten eine einmalige kostenlose Umbuchungsmöglichkeit, teilte Austrian mit. Der neue Abflug müsse spätestens am 21. Oktober 2014 erfolgen.
- In der Ukraine ist eine Boeing 777 der Malaysia Airlines abgestürzt. Möglicherweise wurde der Jet abgeschossen – eine Bestätigung steht noch aus.
- Der Flug MH 17 war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. An Bord waren 298 Menschen. Die meisten Passagiere waren Niederländer.
- Die ukrainische Regierung und pro-russische Separatisten weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Der US-Geheimdienst vermutet die Rebellen hinter der Tat.
- Der Luftraum über der Ostukraine ist nun geschlossen.
- Für Malaysia Airlines handelt es sich um die zweite Tragödie innerhalb weniger Monate. Erst Anfang März war der Flug MH370 mit 239 Menschen an Bord auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking verschwunden.
Es stehen viele Fragenzeichen hinter dem Abschuss in der Ostukraine. Zu viele, um letztgültig zu sagen, wer, womit und warum geschossen hat. Und man wird es vermutlich nie exakt erfahren. Fakt ist aber: 298 völlig unbeteiligte Menschen sind tot – Malaysier, Deutsche, Australier, Niederländer. Und eingetreten ist der vorhersehbare Modus der vergangenen Wochen: Kiew beschuldigt pro-russische Separatisten; Moskau sowie die pro-russischen Separatisten beschuldigen wiederum die Ukraine. Und im Westen Europas rauchen ohnehin seit Ewigkeiten die Köpfe, wie mit der Situation in der Ostukraine generell verfahren werden soll, ohne zu einem Schluss zu kommen. Als wolle man die Antwort auf die Frage, was denn da vor sich geht, nicht wahrhaben. Und die lautet: Es ist Krieg – das ist keine interne Krise, kein Aufstand oder sonst etwas.
Ein Krieg ist ein Krieg, auch wenn er nicht erklärt wurde; auch wenn ihn Saboteure ohne Kennung und Hoheitsabzeichen führen; auch wenn es großteils eine bezahlte Soldateska ist, die mit schwerem Gerät hantiert und nicht reguläre Truppen – Wallenstein lässt grüßen. Und all das zumindest mit Duldung Russlands.
Formlos
Dieser Krieg wird einfach nur geführt. Zynisch, ganz ohne lästige diplomatische Formalitäten und Umgangsformen. Und genau das macht ihn so schauerlich – weil es ihn nach internationalem Regelwerk nicht gibt. Und da ist noch etwas: Letztlich ist es ein Krieg gegen ein assoziiertes Mitglied der EU, der da geführt wird. Daran ändert keine Schreckstarre etwas. Und auch keine Sonnenschein- oder Realitätsverweigerungspolitik europäischer und vor allem auch österreichischer Staatenlenker, die inmitten dieses Schlamassels Felle retten wollen und Pipeline-Deals unterzeichnen oder Rüstungsverträge bekräftigen – um "Gesprächskanäle" offenzuhalten.
Russland hat eingestanden, auf der Krim sein Militär eingesetzt und so Territorium annektiert zu haben – etwas, das seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa in dieser Form nicht vorgekommen ist. Allen Mahnungen aus Europa oder den USA zum Trotz ist Russland bisher ohne echt schmerzhafte Folgen davongekommen.
Und in der Ostukraine? Es rollen Kampfpanzer und Kriegsgerät nahezu tagtäglich in kilometerlangen Konvois über die Grenze. Und diese – nach den Worten Russlands – Volksmilizen sollen keine Verbindung zum offiziellen Russland unterhalten? Wenn dem so sein sollte, steht Russland vor dem Ende. Es gibt Satellitenbilder, es gibt Technologie, die jede Verbindung mit dem Internet registriert oder jedes Telefonat – was braucht es, um Europa wachzurütteln? Eine Kriegserklärung?
Der Abschuss eines Zivil-Jets ist inmitten dieser Tragödie leider nicht mehr als ein tragischer Zwischenfall, der heraussticht aus dem Wahnsinn eines Krieges, den wir offenbar nicht wahrhaben wollen. Vielleicht aber wird er zum Anlass, dass Brüssel – und auch die hiesigen Volksvertreter – endlich eine klare Sprache finden.
Das Flugzeug der Malaysian Airlines mit 298 Menschen an Bord, das über dem Osten der Ukraine möglicherweise von einer Boden-Luft-Rakete getroffen wurde, ist nicht die erste zivile Maschine, die in den vergangenen Jahren abgeschossen wurde. Dabei gab es hunderte Tote:
23. März 2007: Eine Iljuschin einer weißrussischen Fluggesellschaft wird von einer Rakete kurz nach ihrem Start in der somalischen Hauptstadt Mogadischu getroffen, wo ein Bürgerkrieg tobt: Bei dem Absturz kommen elf Menschen ums Leben, an Bord waren weißrussische Ingenieure und Techniker.
4. Oktober 2001: Eine Tupolew-154 der russischen Fluglinie Sibir, die auf der Linie zwischen Tel Aviv in Israel und dem sibirischen Nowosibirsk fliegt, explodiert über dem Schwarzen Meer rund 300 Kilometer von der Halbinsel Krim entfernt. 78 Menschen - die meisten Israelis - kommen ums Leben. Eine Woche später gibt Kiew zu, dass die Katastrophe auf den irrtümlichen Abschuss einer ukrainischen Rakete zurückzuführen ist.
3. Juli 1988: Ein Airbus A300 der staatlichen Fluglinie Iran Air wird kurz nach seinem Start im südiranischen Bandar Abbas von zwei Raketen getroffen, die von einem US-Militärschiff aus abgefeuert wurden. 290 Menschen, die nach Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten fliegen wollten, kommen ums Leben. Die Besatzung der Fregatte "USS Vincennes" gibt später an, sie habe den Airbus für einen feindlichen, iranischen Jagdbomber gehalten.
Nacht vom 31. August zum 1. September 1983: Eine Boeing 747 der südkoreanischen Airline KAL wird von sowjetischen Kampfflugzeugen über der Insel Sachalin abgeschossen, nachdem sie von ihrer Flugroute abgewichen ist. Die 269 Menschen an Bord kommen ums Leben. Moskau erkennt seine Schuld fünf Tage später unter internationalem Druck an.
27. Juni 1980: Eine DC9 der italienischen Fluggesellschaft Itavia mit 81 Menschen an Bord explodiert während des Fluges in der Nähe der Insel Sizilien. Die genauen Umstände der Katastrophe werden nie geklärt, doch wird stark angenommen, dass eine Rakete irrtümlich von US-Jagdflugzeugen oder französischen Militärmaschinen abgeschossen wurde, die die DC9 auf ihrem Weg von Bologna nach Palermo für eine libysche Maschine hielten.
21. Februar 1973: Eine Boeing 727 der libyschen Fluglinie Libyan Arab Airlines auf dem Weg von Tripolis nach Kairo in Ägypten wird über der Sinai-Halbinsel von israelischen Jagdflugzeugen abgeschossen. 108 der 112 Menschen an Bord werden getötet. Das Flugzeug war von seiner Route abgekommen, und der Pilot hatte sich geweigert, zu landen.
Für den Radar-Spezialisten Oberst Reinhard Zmugg vom österreichischen Verteidigungsministerium ist klar: Ein Rebell mit einer schultergestützten Lenkwaffe scheidet im Fall der MH 17 als Täter aus. Ein Flugzeug kann nur mit einem sehr komplexen Luftabwehrsystem aus einer Flughöhe von 10.000 Metern abgeschossen werden. Zmugg zum KURIER: „Es gibt am Weltmarkt mehrere Systeme mit diesen Fähigkeiten.“ Aber alle würden eines gemeinsam haben: Sie können nur von bestens ausgebildeten Spezialisten bedient werden.
Das sind die Gründe, warum weltweit alle Beobachter das russische Fliegerabwehrsystem Buk (Buche) unter Verdacht haben. Die bis zu 700 Kilogramm schweren Raketen mit ihren 50 Kilogramm schweren Sprengköpfen haben eine Reichweite von bis zu 45 Kilometer und erreichen Flughöhen bis zu 25.000 Meter. Der NATO-Code für das System heißt „Gadfly“ (Stechmücke).
Eine Buk-M1-Batterie besteht aus einem Radar- und einem Kommandofahrzeug sowie vier mobilen Abschussbatterien.
Verfolgungsradar
Zuerst erfasst ein Suchradar das Flugzeug. Wenn es in den Feuerbereich kommt, schaltet sich ein Verfolgungsradar darauf. Dieses steuert die Rakete ins Ziel. Im Gegensatz zu den „Fire and Forget“-Waffen wie der Stinger, die selbstständig das Ziel mit einem Infrarotkopf sucht, muss bei der Buk das Ziel konstant mit Radar beleuchtet werden. Das ist ein Grund für die Annahme, dass ein irrtümlicher Abschuss ausscheidet.
Es gibt zwar bereits Raketenabwehrsysteme für Zivilluftfahrzeuge. Doch die können nur mit Ablenkungskörpern infrarot-gesteuerte Raketen ablenken. Gegen radargesteuerte Systeme sind sie chancenlos.
Sollte es sich im Falle des malaysischen Flugzeuges um ein Buk-M1-Fliegerabwehrsystem handeln, müsste die Feuerstellung nach Meinung von Experten etwa 15 Kilometer westlich der Absturzstelle gelegen sein.
Inzwischen verfügt Russland über die verbesserte Buk-M2-Version. Diese Raketen wurden bei der Weltkriegs-Siegesparade im Mai 2012 am Roten Platz erstmals stolz der Öffentlichkeit gezeigt. Das System entwickelt sich weltweit zum Verkaufsschlager. Neben Nordkorea, Vietnam und Indien steht auch die Ukraine auf der Kundenliste. Und im September 2012 erklärte Anatoly Isaykin, Generaldirektor der Rüstungsfirma Rosoboronexport, sehr zum Missfallen der Israelis und der USA, dass Buk-M2-Systeme auch an das Assad-Regime in Syrien geliefert wurden.