Politik

Argentiniens geraubte Kinder

Große Gefühle überkommen Victoria Montenegro heute nicht mehr: Auch nicht an dem Tag, an dem der Mann, der ihr Schicksal entschied, endlich verurteilt ist. Zu 50 Jahren Haft hat ein Gericht in Buenos Aires A­rgentiniens Ex-Diktator Rafael Videla verurteilt, wegen systematischen Raubes von Babys und Kleinkindern. Zu viele Jahre hat es gedauert, bis die heute 35-Jährige alles über ihre wahre Geschichte erfuhr und damit zu leben lernte. "Heute hab’ ich den Frieden, den mir einzig und allein die Wahrheit über mein Leben geben konnte."

Victoria war eines von diesen etwa 500 Kindern von politischen Gegnern des Militärregimes, die ihren Eltern weggenommen wurden. Während diese ermordet wurden, wurden sie anderen Familien, meist von hochrangigen Militärs oder Politikern, übergeben. Victoria wuchs bei einem Oberst der Armee namens Hernan Tetzlaff auf: Bei einem Mann, den sie natürlich für ihren Vater hielt, der aber in Wahrheit jener war, der persönlich ihren Vater ermordet hatte. Tetzlaff leitete jene Operationen, bei denen Regimegegner in Militärflugzeuge gepackt und lebend abgeworfen wurden.

Roque Moreno, Victorias leiblicher Vater, wurde bei einem dieser "Todesflüge" 1977 über Uruguay abgeworfen. Erst vor wenigen Monaten wurde seine Leiche mithilfe von Dokumenten, die im Prozess aufgearbeitet wurden, identifiziert. "Es gibt kein Wort, um diese Gefühle auszudrücken", meinte Victoria am Grab, "aber ich habe schon viel schlimmere Situationen hinter mir."

Eine davon, so schildert sie es, war jener Tag, als sie ihren drei Söhnen die Wahrheit sagen musste: "Ich musste ihnen erklären, dass ihr Großvater nicht der tapfere Soldat war, als der er sich immer präsentiert hatte, sondern ein Mörder."

"Das Richtige getan"

Ihr selbst hatte der Oberst schon ein paar Jahre zuvor die Wahrheit eingestanden. In einem Restaurant erzählte er der damals 25-jährigen Victoria die Geschichte, wie er ihren Vater getötet und sie, als gerade einmal fünf Monate altes Baby – auch die Mutter war damals schon ermordet worden – mit sich nach Hause genommen hatte: "Er war völlig überzeugt, das Richtige und vor allem das Beste für mich getan zu haben."

Victoria kann über das Gespräch bis heute nur mit Mühe reden, über den Schock und die quälenden Monate danach: "Das war ein langsamer Prozess. Es gibt ja keinen Moment, in dem man alles löscht und von neuem anfängt. Du bist ja keine Maschine, in der man alles löschen kann."

Auch die Gefühle für den Mann, der Jahrzehnte ihr Vater war, sind nicht ausgelöscht: "Ich kann ihn nicht hassen, auch wenn er meinen Vater tötete."