Der Flügeltürer von Mercedes: Geburtsstunde vor 70 Jahren mit österreichischer Hilfe
Von Michael Andrusio
Es war der 6. Februar 1954, als Mercedes auf der International Motor Sports Show in New York gleich zwei Autos präsentierte, die die Autowelt in Staunen versetzten: Den 300 SL und den 190 SL. Der eine ein Roadster, der andere ein Sportcoupé mit Flügeltüren zum Einsteigen. Heute würde wohl kein Hersteller gleich zwei solche Stars gleichzeitig auf einer Messe präsentieren. Aber in den 50er-Jahren war die Lage ein wenig anders und dabei hatte auch ein Österreicher maßgeblichen Anteil.
Hoffman
Maximilian Edwin Hoffmann kam 1904 in Wien zur Welt. In den 1920er-Jahren fuhr er Auto- und Motorradrennen und gründete 1934 mit einem Partner eine Autohandelsgesellschaft (und importierte unter anderem die Autos einer jungen schwedischen Automarke namens Volvo nach Österreich). Sein Vater war Jude und 1938 musste Hoffmann das Land verlassen - zunächst ging er nach Frankreich und 1941 emigrierte er in die USA. Er änderte seinen Nachnamen in Hoffman und widmete sich wieder dem Auto-Import. Er wurde Händler für Jaguar, später für VW, Porsche und 1952 begann seine Zusammenarbeit mit Daimler-Benz.
Hoffman verlangte von Mercedes nicht mehr und nicht weniger als einen kleinen und einen großen Sportwagen. Er wurde eingeladen und stellte am 2. September 1953 persönlich in Untertürkheim seine Pläne acht Vorständen und führenden Mitarbeitern des Unternehmens vor. Er beschrieb die Besonderheiten des US-Markts und verlangte nach Angaben des Vorstandsprotokolls „unter allen Umständen einen Sportwagen, der alleine die Existenz-Grundlage für die Händler-Organisation geben kann“. Und tatsächlich gab der Vorstand der Daimler-Benz AG am 5. September 1953 Maximilian Hoffman die Zusage, ihm für die am 6. Februar 1954 beginnende International Motor Sports Show in New York einen kleinen und einen großen Sportwagen zur Verfügung zu stellen. Eigentlich wollte man dem Importeur für den amerikanischen Markt eine Cabriolet-Versionen des Typ 180 machen. Im Rahmen der Sitzung in Untertürkheim meinte Hoffman aber dazu nur kurz und lapidar: "Das wird nichts".
Und so machte man sich daran, den 300 SL und den 190 SL zu schaffen. Das war nicht nur wegen des knappen Zeitfensters ein gewagtes Projekt, da es keins der beiden Fahrzeuge gab. Man hatte mit Herrn Hoffman auch einen ausgesprochen "fahraktiven Importeur", der die Autos gern selbst flott bewegte und sich damals auch an Rennen in den USA beteiligte.
Rennwagen-Gene
Der 300 SL wurde aus dem erfolgreichen Rennwagen Mercedes-Benz 300 SL (W 194) entwickelt, bekam aber die Baureihennummer W 198. Die Basis ist somit hervorragend, Fahrwerk und Gitterrohrrahmen hatten sich in diversen Rennen wie Mille Miglia, 24 Stunden von Le Mans, Carrera Panamericana bewährt. Auch die Entwicklung eines neuen Motors mit Benzin-Direkteinspritzung war schon weit fortgeschritten. Trotzdem hatten die Ingenieure jede Menge Arbeit vor sich. Man benötigte eine alltagstauglichere Karosserie, besseren Fahrkomfort und eine bessere Fahrsicherheit. Neben einer Heizung fehlte im Rennsportwagen aus Gewichtsgründen auch jede Art von Schalldämmung. Der damalige Oberingenieur Karl-Heinz Göschel hatte die Aufgabe, die damals noch in den Kinderschuhen steckende Benzin-Direkteinspritzung für ein Alltagsfahrzeug praxistauglich zu machen. Befragt, wie so eine gigantische Leistung gelingen konnte, meinte er: „Wir haben Tag und Nacht geschuftet und für Sitzungen keine Zeit gehabt.“
Am 31. Oktober 1953 erhielt Max Hoffman vom Vorstand Luftpost. Inhalt: Die Ansichtszeichnungen für den 300 SL und für „das Modell 180 in Sportausführung, für welch letzteres wir uns noch die Namensgebung offenhalten“.
Eigentlich hätte Hoffman auch den 300 SL als offene Version haben wollen, aber das ging sich zeitlich beim besten Willen nicht aus. So war der 300 SL ein Coupé mit seitlichen Flügeltüren - kein optischer Gag, sondern konstruktive Notwenigkeit, denn auch die Serienversion des 300 SL hat wie der Rennwagen den leichten und sehr stabilen Gitterrohrrahmen, der aber seitlich hoch baut und so konventionelle Türen ausschließt. Die Flügeltüren wurden zum Markenzeichen des Autos und bald wurde das Auto überhaupt nur mehr "Flügeltürer" genannt. Im Englischen wird das Auto zum "Gullwing" (Möwenschwinge) und im Französischen zum "Papillon" (Schmetterling).
Weitere Konsequenz der Konstruktion: Kurbelscheiben lassen sich nicht unterbringen. Daher sind die Rechteckscheiben des 300 SL herausnehmbar und lassen sich im Kofferraum transportieren. Die Lenkradkonstruktion lässt sich nach unten schwenken, um den Einstieg der Beine in den Fußraum zu erleichtern. Ein kleiner Hebel an der Nabe entriegelt und verriegelt den Volant.
Der 300 SL bekommt den ersten serienmäßigen Viertakt-Einspritzmotor mit Direkteinspritzung in einem Personenwagen. Leistung: 215 PS. Mit rund 250 km/h erreicht der Mercedes eine für die 1950er-Jahre atemberaubende Höchstgeschwindigkeit.
1400 Exemplare
Die Produktion des 300 SL lief im August 1954 an, die ersten Autos wurden dabei noch in Europa ausgeliefert, der Export in die USA begann im März 1955. 1.400 Exemplare des 300 SL Coupé wurden von 1954 bis 1957 gebaut und wenig überraschend waren es die Celebrities der Epoche, die so ein Auto kauften. Mercedes legte den Preis seinerzeit mit 29.000 DM fest, dafür bekam man sechs VW Käfer. 1957 kam die von Max Hoffman gewünschte Roadster-Version des 300 SL.
Hoffman starb am 9. August 1981 in den USA, 2004 wurde er in die Automotive Hall of Fame aufgenommen.