Mercedes 350 SE: Die erste S-Klasse im Test
Manchmal kommt es anders, als man denkt: Auf der IAA 1971 wollte Mercedes sein neues Flaggschiff für Normalsterbliche vorstellen (der 600 lief in einer anderen Dimension). Und dann das: Aus wirtschaftspolitischen Gründen sagte der Verband der deutschen Automobilindustrie die Messe in Frankfurt einfach ab. Dabei hatte sich Mercedes bei der erstmals auch offiziell "S-Klasse" genannten Limousine richtig ins Zeug gelegt. Neue Motoren, ein modernes Fahrwerk und viel passive Sicherheit. Wirkt das Gesamtpaket der Baureihe 116, wie die S-Klasse offiziell genannt wurde, auch heute noch reizvoll? Ich konnte einen Mercedes 350 SE testen.
Wuchtig steht er vor mir, der 116er. Kein Vergleich zu seinem fast zierlich wirkenden Vorgänger, der Baureihe 108/109. Ein Blick auf die Abmessungen verrät: Sechs Zentimeter mehr bekam der 116 bei Länge und Breite zugeschlagen, dafür sank die Höhe um zwei Zentimeter. Andererseits: 4,96 Meter sind heute schon E-Klasse-Niveau. Doch die fetten Doppel-Chromstoßstangen lassen die 1972 vorgestellte S-Klasse besonders mächtig wirken. Im doppelte Sinne sogar, denn die schweren Limousinen prägten die Nachrichten der 70er: Helmut Schmidt im gepanzerten 350 SEL, der von Schüssen durchsiebte 450 SEL von Hanns-Martin Schleyer.
Hubraum-Gigant mit fast sieben Liter
Ich gehe um "meinen" dunkelblauen 350 SE herum. Mir gefällt seine Optik, aber die Baureihe 116 ist keine Naturschönheit wie ihr Nachfolger. Die hochgezogenen Blinker vorne und die riesigen geriffelten Rückleuchten am Heck zitieren den kurz vorher erschienenen SL der Baureihe 107. Große Scheinwerfer betonen die Breite des Wagens. Abgesehen vom üppigen Chrombehang wirkt der 350 SE auch nach über 40 Jahren noch modern und kaum wie ein Oldtimer. Trotzdem ist die Fangemeinde nicht riesengroß, preislich abgehoben ist einzig der 1975 vorgestellte Mercedes 450 SEL 6.9 mit gigantischem V8 und Hydropneumatik. Die Presse schrieb damals: "Es ist höchst erfreulich, dass gerade in der heutigen Zeit ein Auto erscheint, das allerhöchsten Fahrgenuss für den Kenner - und zwar bei jedem Tempo - bietet." 7.380 Exemplare des Hubraum-Giganten werden gebaut.
Blicken wir auf die zivileren Aggregate: Die Baureihe 116 umfasst zunächst die Typen 280 S, 280 SE und 350 SE. In den 280ern kommt der Sechszylindermotor M 110 mit zwei oben liegenden Nockenwellen zum Einsatz, im 280 SE mit Einspritzung. Der 350 SE wird vom neu entwickelten V8-Motor M 116 (nomen est omen!) angetrieben, ein halbes Jahr später folgt der 450 SE mit dem hubraumstärkeren 4,5-Liter-V8-Motor M 117. 1973 erscheinen die Typen 450 SEL und 350 SEL mit einem um zehn Zentimeter verlängerten Radstand. Der Raumgewinn kommt der Beinfreiheit im Fond zugute. Die verlängerte Version ist ab April 1974 auch als 280 SEL erhältlich.
Mehr Sicherheit und erstmals ein Diesel
Eine bemerkenswerte technische Neuerung, die bei den Limousinen der Baureihe 116 erstmals in einem Serienfahrzeug verwirklicht wird, ist die beim Forschungsfahrzeug C 111 erprobte Doppelquerlenker-Vorderradaufhängung mit Lenkrollradius null und Bremsnick-Abstützung; sie ermöglicht eine bedeutsame Verbesserung der Fahreigenschaften. Die Hinterradaufhängung der Typen mit 2,8- und 3,5-Liter-Motor entspricht im Wesentlichen der Schräglenker-Konstruktion, die sich in den "Strich-Acht"-Typen seit Jahren bewährt hat und seit 1971 außerdem im SL verwendet wird.
Hinsichtlich der passiven Sicherheit legen die Mercedes-Ingenieure gleich mehrere Schippen drauf: So befindet sich der Kraftstofftank nun nicht mehr im Wagenheck, sondern ist kollisionsgeschützt über der Hinterachse eingebaut. Im Innenraum sorgen das stark gepolsterte Armaturenbrett, deformierbare oder versenkt angeordnete Schalter und Hebel sowie ein Vierspeichen-Sicherheitslenkrad mit Pralltopf und breiter Polsterplatte für größtmöglichen Aufprallschutz.
Im Mai 1978 kommt es zu einer für S-Klasse-Fans fast schockierenden Neuerung: ein Diesel! Der 300 SD nutzt den Dreiliter-Fünfzylinder (übrigens eine Entwicklung von Ferdinand Piëch) mit 80 PS aus dem 240 D 3.0. Für seine neue Aufgabe in der S-Klasse erhält das Aggregat einen Abgasturbolader, der die Leistung auf 115 PS steigert. Damit ist der 300 SD der erste Turbodiesel-Pkw weltweit. Die Entwicklung dieser ungewöhnlichen S-Klasse-Variante, die ausschließlich in den USA und Kanada angeboten wird, ist eine Reaktion auf die von den Vereinigten Staaten von Amerika neu eingeführten Verbrauchsgrenzwerte. Billig ist der 300 SD nicht: Amtliche 25.000 US-Dollar ruft Mercedes auf.
1978 sorgt die Mercedes S-Klasse noch einmal für Aufsehen: Optional wird ein Anti-Blockier-System (ABS) angeboten. Das hat der von mir getestete 350 SE noch nicht an Bord, dafür aber einen wohlklingenden V8. Bollerig, aber nicht aufdringlich tönt es vom Auspuff in Richtung meiner Ohren. Ich begebe mich hinter das Lenkrad im Omnibus-Format mit genarbten Kranz und spiele etwas mit dem Gaspedal. Ja, diese S-Klasse wirkt ziemlich amerikanisch. Kurios: Statt eines Drehzahlmessers glotzt mich eine riesige Quarzuhr an. Sie war im 350er ebenso serienmäßig wie ein Schaltgetriebe. Doch diese reizvolle Kombination wählte kaum jemand, die Mehrheit setzte wie in meinem Auto auf die Dreistufen-Automatik.
"Mit deutlicher Seitenneigung geht es ums Eck."
Also schiebe ich den Wählhebel auf D und fahre los. Sanft brabbelnd schiebt der Mercedes 350 SE voran. Sein V8 bleibt sanft und bei 100 km/h laufruhig. Doch spätestens in flott genommenen Kurven zeigt sich wieder die Ami-Note des hinterradgetriebenen 116: Mit deutlicher Seitenneigung geht es ums Eck. Cruisen ist da definitiv die beste Entscheidung. 286 Newtonmeter Drehmoment (bis 1976) sprechen für sich, bei Bedarf wären 205 km/h drin. Doch spätestens dann tanzt die Belegschaft der nächsten Tankstelle Polonaise, denn rund 20 Liter rauschen gerne mal auf 100 Kilometer durch die Düsen. Notiz am Rande: Selbst beim ach so sparsamen 300 SD für die Amis sind es 14 Liter im Schnitt.
Der 116er-Nachfolger sollte eine IAA zur Weltpremiere bekommen: Im September 1979 stand dort die schlanker gestaltetet Baureihe 126 im Rampenlicht. Die Produktion der Baureihe 116 lief, je nach Typ, erst zwischen April und September 1980 aus. Als letztes von insgesamt 473.035 gebauten Exemplaren des 116ers passierte ein 300 SD die Endabnahme im Werk Sindelfingen. Die erfolgreichste Variante der Baureihe ist der 280 SE mit 150.593 gebauten Limousinen, während der Typ 350 SEL mit 4.266 Fahrzeugen am seltensten gewählt wurde. Der 300 SD fand insgesamt 28.634-mal neue Freunde. Wer heutzutage im Luxus der 1970er-Jahre schwelgen möchte: Ein 280 S notiert im Zustand 2 mit 10.600 Euro, der 350 SE liegt bei 15.500 Euro.