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40 Jahre ABS bei Mercedes: Als die Elektronik ins Auto kam

Chrom ohne Ende: Beim Anblick der Mercedes S-Klasse der 1970er-Jahre würde man nicht spontan an Innovation denken. Und dennoch war das Konzernflaggschiff jener Epoche ein echter Treiber des Fortschritts: 1978, also vor 40 Jahren, gab es hier erstmals ein Anti-Blockier-System (ABS) im Angebot. Damit war der Startschuss gefallen für all das, was uns heute unter dem Schlagwort Fahrerassistenzsysteme entlastet, aber manchmal auch beunruhigt.

Die ersten Gedanken zum Thema ABS gibt es bei Mercedes schon 1953: Damals meldet Konstruktionschef Hans Scherenberg ein Patent zum Verhindern des Blockierens von Fahrzeugrädern beim Bremsen an. Scherenberg ist nicht alleine, auch in der Flugzeug- und Eisenbahntechnik gibt es ähnliche Ideen. Der Knackpunkt: Das auf unterschiedlichen Oberflächen fahrende Auto ist besonders komplex. Hier müssen die ABS-Sensoren Drehverzögerungen und Beschleunigungen der Räder auch bei Kurvenfahrt, Bodenunebenheiten und starker Verschmutzung fehlerfrei registrieren.

1963 beginnt in der Vorentwicklung bei Daimler-Benz ein neuer Anlauf, eigene Komponenten für ein elektronisch-hydraulisches Bremsregelsystem zu entwickeln. Dazu kooperiert man mit der Firma Teldix, die später von Bosch übernommen wird. Allerdings lässt sich Daimler-Benz Zeit, auch aus Gründen der Zuverlässigkeit. So ist der erste Pkw mit ABS der Jensen FF mit mechanischem Dunlop-Maxaret-ABS aus dem Jahr 1966. 1969 rüstete Ford den Lincoln Continental Mark III mit einem nur auf die Hinterräder wirkenden ABS-System namens Sure-Track Brake System aus; ebenso den Ford Thunderbird. Eines haben diese Systeme gemeinsam: Sie sind allesamt nicht das Gelbe vom Ei. Das ändert sich, als 1969 auf der IAA die erste Generation eines elektronisch gesteuerten Anti-Blockier-Systems vom amerikanischen Unternehmen ITT Automotive (bis 1967 Alfred Teves) präsentiert wird.

Erste ABS-Vorführungen im Strich-Acht

Und auch bei Mercedes ist man fertig: 1970 stellt Hans Scherenberg, inzwischen als Entwicklungschef von Daimler-Benz der oberste Techniker im Konzern, den Medien das " Mercedes-Benz/Teldix Anti-Bloc-System" vorstellt. Im Strich-Acht funktioniert es, doch Scherenberg dämpft die Hoffnungen auf einen schnellen Serieneinsatz. Die Entwickler warten auf eine digitale Steuerung als idealen Weg für ein Großserien-ABS. Sie ist zuverlässiger, weniger komplex und viel leistungsfähiger als die analoge Elektronik von 1970.

Im Detail bedeutet die Umstellung folgendes: die Nutzung integrierter Schaltkreise ermöglicht es, in kürzester Zeit die Sensordaten an allen vier Rädern zu erfassen, zu verarbeiten und daraus die notwendige Ansteuerung der Magnetventile für das Regulieren des Bremsdrucks zu berechnen. Im August 1978 ist dann endlich soweit: Für nicht wirklich günstige 2.217,60 Mark steht das ABS in der Aufpreisliste für den W 116, die S-Klasse der 1970er-Jahre.

So fährt sich die erste S-Klasse mit ABS

40 Jahre später mache ich den Praxistest im Oldtimer mit Limousinen von damals: Am Steuer eines 280 SE ohne ABS rutsche ich volle Kanne in die aufgebauten Schaumstoffwürfel. Anders im mächtigen 450 SEL 6.9 mit ABS. Mit hartem Eingriff von mir am Lenkrad schwenkt die dicke Limousine an der weichen Wand vorbei.

Ab August 1980 ist ABS für 2.429,50 DM Aufpreis für sämtliche Mercedes-Baureihen verfügbar. Seit Oktober 1992 zählt es zur Serienausstattung aller Modelle der Marke. In den 1980er-Jahren geht es bei Daimler-Benz in Sachen Assistenz- und Sicherheitssysteme Schlag auf Schlag: Airbags für Fahrer und Beifahrer, 4matic-Allradantrieb, Antriebsschlupfregelung und automatisches Sperrdifferential.

Der kleine A, der Elch und das ESP

1995 feiert ESP, das elektronische Stabilitätsprogramm im Mercedes S 600 Coupé seine Premiere.Damals eher eine Randnotiz, wird ESP im Oktober 1997 zum weltweiten Thema: Kurz nach der Premiere kippt seinerzeit die brandneue A-Klasse beim "Elchtest", einem schnellen Ausweichmanöver, auf die Seite. Eigentlich der mediale Super-GAU für Mercedes (dessen genaue Umstände bis heute für Diskussionen sorgen), doch die Marke schafft es, den Gegenwind in ihre Segel zu leiten. Die Auslieferung der A-Klasse wird für zwölf Wochen unterbrochen und das ESP in dieser Zeit als serienmäßige Komponente nachgerüstet. Auch die andere Mercedes-Baureihen bekommen ESP, die Konkurrenz gerät in Zugzwang, weil Autos ohne ESP plötzlich als unsicher gelten.

Im Selbstversuch probiere ich eine A-Klasse der ersten Generation aus. Genauer gesagt: Einen A 210 in der Langversion. Aber was heißt hier Langversion? Selbst dann streckt sich der kleine Benz auf nur 3,78 Meter, bietet aber besonders im Fond ein gigantisches Platzangebot. Insassen haben hier sogar mehr Beinfreiheit als in der damaligen S-Klasse. Beim Entern des Fahrersitz merke ich den hohen Einstieg. Durchaus angenehm, eine Folge des Sandwichbodens. Er nimmt nicht nur den Motor im Fall eines Crashes auf, sondern war auch für die Batterien einer nie serienmäßig verwirklichten Elektro-A-Klasse gedacht.

Wie dem auch sei: Ich sitze angenehm hoch und blicke durch enorm große Fenster nach draußen. Innen ist der Anblick sehr kunststofflastig, trotz Modellpflege wirkt das Cockpit nicht sehr hochwertig. Als ich auf dem neuen Prüfzentrum von Daimler im schwäbischen Immendingen loslege, merke ich schnell: hoher Schwerpunkt und relativ kurzer Radstand bilden eine physikalisch interessante Melange. Doch aus dem Funkgerät tönt es: Gib Gas!, als ich auf die Schaumstoff-Wand zufahre. Mit etwa 60 km/h weiche ich aus, die A-Klasse drängt nach außen, wird aber sauber eingebremst.

Doch in Zukunft braucht mich mein Auto vielleicht gar nicht mehr am Lenkrad: Im kalifornischen Silicon Valley plant Daimler 2019 eine Pilotregion für einen Shuttle-Service mit automatisierten Fahrzeugen. Ob sich das die Väter des ABS einst vorstellen konnten?

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