28. Jänner 1938: Rekord und Tragödie auf der deutschen Autobahn
Von Michael Andrusio
In den 30er Jahren waren die deutschen Reichsautobahnen Schauplatz für Geschwindigkeitsrekordfahrten. Mercedes-Benz und die Auto Union versuchten ständig sich mit neuen Höchstgeschwindigkeiten auf öffentlichen Straßen zu übertrumpfen. Gefördert und finanziert durch das NS-Regime und es war auch das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps, das die Termine für die Rekordfahrten ansetzte.
Im Oktober 1937 war Bernd Rosemeyer mit seinem Auto Union Rekordwagen während der Rekordwoche von Frankfurt am Main erstmals auf einer öffentlichen Straße schneller als 400 km/h gefahren.
Mercedes wollte im Jänner 1938 zurückschlagen. Rudolf Uhlenhaut, der technische Leiter der Rennabteilung, arbeitet daran, auf Basis des W 125, jenem Rennwagen, mit dem Caracciola Grand-Prix-Europameister geworden war, ein aerodynamisch günstiges Rekordauto zu bauen. Die Vorgaben an die Ingenieure lauten: Fahrgestell und Motor modifizieren und eine völlig neue Karosserie entwickeln. Der Grund dafür ist vor allem ein zu großer Vorderachsauftrieb der Version von 1937, der zeitweise sogar zum Verlust der Lenkfähigkeit geführt hat. Unter anderem aus den Entwicklungsabteilungen der Flugzeugwerke von Ernst Heinkel und von Willy Messerschmitt kommt die Empfehlung, den vorderen Überhang zu verkürzen und die Front runder zu gestalten. Zudem wird die Front weiter nach unten gezogen und läuft an der Spitze steiler aus. Das senkt wie erwünscht den Vorderachsauftrieb.
Dazu wird der Querschnitt des Wagens stärker abgerundet, was die Seitenwindempfindlichkeit reduziert. Schließlich entsteht eine runde, dem Grundriss und Querschnitt eines Tropfens nachempfundene Cockpitverglasung. Bisher hatte Caracciola eine solche Scheibe wegen des Risikos der Sichtverzerrung ablehnt. Nun findet Mercedes-Benz gemeinsam mit einem Zulieferer eine optisch wie aerodynamisch befriedigende Lösung.
Eiswasser-Kühlung
Um die Aerodynamik weiter zu verbessern , verzichtet man eine konventionelle Kühlung durch Luft, sondern entwickelt eine Motorkühlung durch Eiswasser. Dabei befindet sich der Kühler in einem Behälter mit 48 Liter Wasser und fünf Kilogramm Eis. Zusätzliche Kühlwirkung kann bei Bedarf durch Trockeneis erzeugt werden.
Jahrzehnte später stellte Mercedes das Rekordauto in den Windkanal und kam zum Ergebnis, dass das Auto den hervorragenden cw-Wert von 0,170 hatte.
Auch am Motor, einem V12-Zyinder mit 5.577 ccm Hubraum, legen die Mercedes-Ingenieure nochmals Hand an. Eine Leistungsmessung vor dem Einbau des Motors ins Fahrzeug ergibt am 29. Dezember 1937 eine Leistung von 714 PS ohne Zusatzschiebervergaser. Zusammen mit diesen zusätzlichen Vergasern würde die Leistung rund 765 PS betragen, teilt Motorenentwickler Georg Scheerer am 6. Januar 1938 mit.
Gefahren wird am 28. Jänner 1938 auf einem erst drei Jahre alten Autobahnstück zwischen Frankfurt und Darmstadt und es ist nicht mehr weit bis zur Berliner Automesse, wo sowohl Mercedes als auch Auto Union als Rekordhalter auftreten wollen. Es ist ein kalter, aber noch windstiller Morgen als Rudolf Caracciola um 8 Uhr seine Rekordfahrt wagt. Ermittelt werden die Geschwindigkeiten jeweils als Mittelwert von Fahrten in beide Richtungen und Caracciola erreicht über den Kilometer mit fliegendem Start eine Geschwindigkeit von 432,7 km/h. Neuer Rekord. Nie war ein Mensch auf einer öffentlichen Straße schneller.
Caracciola ist zufrieden. Später schreibt er in seiner Biografie: „Der Wagen liegt herrlich auf der Straße. Ich merke es schon auf der Anlaufstrecke. Es ist ein ganz anderes Fahren als mit der Konstruktion im vorigen Jahr.“
Die Katastrophe
Dann ließ es Caracciola gut sein. Nach ihm war Bernd Rosemeyer von der Auto Union an der Reihe. Es wird berichtet, dass Caracciola seinen Kontrahenten vor Seitenwind warnte. Rosemeyer startete und erreichte bei seiner ersten Fahrt 429 km/h. Das Auto hatte weniger Leistung als der Mercedes, galt aber als aerodynamisch noch ausgefeilter. 440 km/h hätten die Auto Union Ingenieure als theoretischen Wert ausgerechnet.
Beim zweiten Anlauf überschlug sich der Wagen mehrfach und blieb an einer Autobahnböschung liegen. Rosemeyer wurde aus dem Auto geschleudert und war auf der Stelle tot. Als wahrscheinlichste Unfallursache gilt, dass der Wagen von einer Windböe erfasst wurde und Rosemeyer die Kontrolle verlor. Restlos aufgeklärt wurden die Umstände des Unfalls aber nie.
Rudolf Caracciola starb 1959 im Alter von 58 Jahren an Leberversagen. Sein Rekord hatte bis zum Jahr 2017 Bestand und wurde von einem Koenigsegg Agera RS mit 447 km/h übertroffen.