Meinung

Wann ist es hier so eng geworden?

Das Resultat war ein Cut auf der Stirn über meinem rechten Auge.

Barbara Kaufmann
über Enge

Es war an einem lauen Spätsommerabend, die Sonne war schon verschwunden und es roch nach Herbst, als ich in meinem Kinderzimmer stand und packte. Und zwar so wie man es eben tut, wenn man dazu tendiert, alles in letzter Minute zu machen. Für Außenstehende mochte es unstrukturiert wirken, planlos, chaotisch. Aber inmitten der Kleiderberge, der offenen Laden und Bücherstapeln ging ich penibel nach einem genauen Konzept vor, nach dem alles Mitnehmenswerte ins neue Leben als Studentin in Koffern und gelben Einkaufssäcken aus Plastik landete.

CDs, Bücher, nostalgische Gegenstände, die außer der mit ihnen verbundenen Erinnerungen kaum von Wert oder Schönheit waren. Und da plötzlich passierte es. Ich machte einen vertrauten Schritt in scheinbar vertrauter Umgebung – und knallte gegen die Wand. Der Boden war nicht mehr da, wo ich ihn jahrelang vermutet hatte und ich fiel. Mit voller Wucht gegen den Schreibtisch. Das Resultat war ein Cut auf der Stirn über meinem rechten Auge. Es tat nicht sonderlich weh, es sah auch nicht abschreckend aus, aber trotzdem verwirrte mich dieser Unfall, ließ mich ratlos zurück.

Falsche Perspektive?

Ich rätselte und dachte lange darüber nach, wie es dazu hatte kommen können. Wie ich mich in einem Zimmer, in dem ich mich jahrzehntelang blind bewegt hatte, das ich in allen denkbaren und undenkbaren Zuständen unfallfrei betreten und verlassen hatte, das ein selbstverständlicher Teil meines Alltags gewesen war, derart folgenschwer hatte verschätzen können. Hatte der Raum etwa seinen Grundriss heimlich über Nacht verändert? Hatten sich die Wände vielleicht über die Jahre unbemerkt von mir langsam aufeinander zubewegt? Hatte ich mein Zimmer all die Jahre aus der falschen Perspektive betrachtet? Wann war es hier so eng geworden?

Dieselbe Frage stelle ich mir heute, wenn ich in Wahlkampfzeiten von Reisen nach Hause zurückkehre. In ein vermeintlich vertrautes Umfeld, zu Menschen, die ich ewig kenne, in eine Stadt, in der ich schon lange lebe. Vielleicht ja zu lange. Vielleicht bin ich unaufmerksam geworden, wie damals in meinem Kinderzimmer, vielleicht macht auch der Abstand Wände erst sichtbar, die man aus der Nähe nicht bemerkt. Aber wann hat man eigentlich damit begonnen, Freundschaften zu beenden, weil man unterschiedliche politische Ansichten hat? Wann wurde die Meinung des anderen, sofern sie von der eigenen abweicht, zur "falschen Meinung", so schwer zu ertragen, dass man miteinander brechen muss? Und diesen Bruch auch noch damit rechtfertig, das moralisch "richtige" zu tun? Wann wurden die Grenzen der geistigen Kleingärten so rigide abgesteckt, dass man jeden, der das eigene Weltbild in Frage stellt, als Bedrohung empfindet? Wann wurde Meinungsvielfalt in Familie und Freundeskreis nicht mehr als Bereicherung gesehen, sondern als Grund, den anderen zu meiden? Wann wurde das gegenseitige Schulterklopfen so wichtig, dass es ohne nicht mehr geht? Wann hat man damit begonnen aufgrund einzelner Aussagen unter Freunden Charakterzeugnisse zu verteilen? Ohne zu versuchen, den anderen zu verstehen, ohne nachzufragen, ohne den Menschen dahinter zu sehen?

Wann ist es hier so eng geworden?