Die Wiener Politik muss raus aus der Komfortzone
Nach drei Tagen ist die öffentliche Brautschau vorbei – und endete gleich mit einer Art Trennung. Bis gestern hat der Wiener SPÖ-Chef Michael Ludwig mit Neos, Grünen und ÖVP die Grundlagen für eine mögliche Zusammenarbeit im Rathaus ausgelotet.
Noch bevor die roten Gremien in den nächsten Tagen festlegen werden, mit wem man in ernste Koalitionsverhandlungen eintreten will, gab es die erste De-facto-Absage. Eine rot-türkise Allianz wird es in Wien wohl nicht geben.
Das stand direkt nach dem ersten und einzigen Gespräch zwischen den beiden Parteien fest. Die Überraschung darüber hält sich freilich in engen Grenzen.
Die Entscheidung, ob mit den Neos oder den Grünen verhandelt wird, ist für Ludwig heikler, als es seine zur Schau getragene Sieger-Pose vermuten lässt. Der SPÖ-Chef weiß: Wen er als Verhandlungspartner wählt, mit dem muss er bis Ende November über die Ziellinie kommen. Scheitern die Gespräche, erhält sein Image Kratzer – und der verbliebene Gesprächspartner wird den Preis in die Höhe treiben. Der machtbewusste SPÖ-Chef wird das zu verhindern versuchen.
Für die Wienerinnen und Wiener wäre es freilich nicht schlecht, wenn der künftige Juniorpartner mit Selbstvertrauen (ver-)handelt. Das Coronavirus hat viele Baustellen überlagert – über kurz oder lang werden sie (nach, trotz oder wegen Corona) wieder zutage treten.
Etwa in der Integration. Die Zahlen, die im Wahlkampf emotional (und oberflächlich) diskutiert wurden, sind nur die Spitze des Eisbergs: Zwei Drittel aller Wiener Volksschüler sprechen im Alltag nicht Deutsch. Und ein Drittel der Erwachsenen war bei der Gemeinderatswahl gar nicht stimmberechtigt. Beides tut dem Zusammenleben in der Stadt nicht gut.
Reformen benötigt auch der städtische Wohnbau. Um für die (wichtige) soziale Durchmischung zu sorgen, liegt die Einkommensgrenze für einen Platz im Gemeindebau weit höher, als es fair wäre. Gefördert werden letztendlich die Falschen, rund die Hälfte der Bewohner sind Besserverdiener. Förderungswürdige gehen leer aus.
Der Verkehr muss neu gedacht werden. Nicht in den Innenbezirken, die sich vor Begegnungszonen, 30er-Taferln und Radwegen schon jetzt kaum retten können. Sondern in den Randbezirken, in denen die Stadtplanung versagt, für eine gute Infrastruktur und Öffi-Anbindungen zu sorgen. Im Gesundheitssystem wird es auf Dauer nicht reichen, Türschilder auszutauschen, wann immer ein Skandal auftaucht. Für die Wirtschaft – allen voran für Handel, Gastro und Städtetourismus – braucht es neue Rezepte.
Die Probleme sind bekannt. Ist Ludwig mutig, dann lotet er aus, mit welchem Partner er sie bewältigen kann – und wählt nicht nur die politisch günstigste Option. Ob sich der SPÖ-Chef aus der Komfortzone wagt, wird auch am Verhandlungsgeschick seiner Gegenüber liegen.