Meinung

Sicherheit, eine Frage der Haltung

Kriminalität ist Alltag in Rio, während Olympia gibt es so viel Schutzpersonal wie noch nie. Wie fühlt sich das an?

Philipp Albrechtsberger
über die Kehrseite

49 Tötungen im Juni, 40 im Mai und 35 im April. So liest sich die jüngste Bilanz von Rio de Janeiro, herausgegeben vom offiziellen Sicherheitsbüro für den Bundesstaat. Begangen allerdings nicht etwa durch Mitglieder von Drogenbanden, sondern durch Polizisten.

Zusammengefasst: Jeden Tag stirbt zumindest ein Mensch in Rio durch die Waffe eines Polizisten. Verglichen mit dem Vorjahr bedeutet das einen Anstieg der Polizeigewalt um 103 (!) Prozent. Die brasilianische Zweigstelle der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert mitunter das Fehlen von öffentlichen Protokollen nach Polizeieinsätzen. Die Exekutive rechtfertigt dies mit dem Personal- und Geldmangel, der aktuell das gesamte öffentliche System Brasiliens an den Rand des Kollapses führt.

Amnesty kontert mit nüchternen, harten Zahlen: Seit Rio de Janeiro im Jahr 2009 den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele bekommen hat, töteten Polizisten in ihrer Stadt 2600 Menschen. "Befriedung" von Problemgebieten, allen voran von Dutzenden der mehr als 100 Favelas in der 6,5-Millionen-Einwohner-Stadt, nennt die Polizei diese groß angelegten Aktionen. Ein schrecklich zynischer Begriff.

In Rio de Janeiro vergeht derzeit kaum eine Stunde, in der nicht Sirenen und vorbeirasende Polizeiautos zu hören sind. Über die mobile App "Crossfire", die Olympia-Touristen über gefährliche Zonen auf dem Laufenden halten soll, wurden allein im Juli dieses Jahres 756 Schießereien gemeldet.

Räuberische Randnotiz

Die Bewohner Rio de Janeiros haben sich mit der Kriminalität und mit all ihren Begleiterscheinungen arrangiert. Bewaffnete Raubüberfälle sind hier Alltag, Randnotizen bestenfalls, nicht der Rede wert. Für die Olympia-Gäste mutet diese Einstellung seltsam bis befremdlich an. Der schwer bewaffnete Sicherheitsmann hinter schusssicherem Glas und mit schusssicherer Weste in der Bank lässt beim Geldabheben das Gefühl aufsteigen, dass hier zu jeder Zeit etwas passieren kann.

Bei den Olympischen Spielen vermischt sich diese konstante Gefahr noch mit der aufkeimenden Terrorbedrohung. Ein Gleichstellen dieser beiden Gefahrenherde ist zwar völliger Unsinn, aber leider unausweichlich. Ein Dilemma, das man seit den Terroranschlägen und Amokläufen auch in Europa kennt. Daran knüpft sich die zentrale Frage: Was ist Sicherheit? Am Beispiel Rio lässt sich sagen: Es ist nicht die Anzahl des aufgebotenen Schutzpersonals. Sicherheit ist ein Gefühl – und zwar ein ganz persönliches.