Meinung/Kolumnen/Ueberleben

Oben ohne

Ich liege immer noch im Bad. Es ist dasselbe Bad, wo ich schon vor 27 Jahren einen Sommertag nach dem anderen verdunsten ließ. Damals, 1985, hopsten im Bad alle Frauen oben ohne durch die Gegend, was ich weniger als anregend, denn als bedrängend empfand. Vor allem bei meinen Klassenkolleginnen – die wollte ich mir oben ohne vorstellen, aber sie nicht oben ohne auf dem Handtuch neben mir sehen. Damals hatten die Frauen jahrelang um das Recht gekämpft, ihren Brüsten im Bad Freiheit gewähren zu dürfen. Als oben ohne schließlich erlaubt wurde, fetzten sich alle die Oberteile vom Leib. Ein paar Jahre später zogen sie sich wieder an. Heute sieht man im Bad keine Frauen mehr oben ohne, aber sie dürften, wenn sie wollten. Sie tragen Oberteile, aber nicht, weil die Badeordnung sie dazu zwingt, sondern weil sie freiwillig auf ihr Recht verzichten, oben ohne zu sein. Die Herren – die sich heute in wadenlangen Badeshorts ins Wasser wuchten – trugen damals Tanga und Schnurrbart. Die mit den schmalsten Tangas und den breitesten Schnurrbärten nannte man „Bademeister“ (und sie trugen keine Leibchen, denn der Hautkrebs war noch nicht erfunden).Gelesen wurde damals schon viel im Bad. Die Herren lasen die Seite 7 der Krone oder ein Bieretikett, die Damen lasen „Nackenbeißer-Heftln“, Liebesromane, in denen es exakt alle 25 Seiten ziemlich körperlich zuging. Heute lesen die Herren die Seite 3 der Heute, und die Damen lesen Kindle. Da kann keiner sehen, dass sie das grenzdebile Shades Of Grey-Sadomaso-Buch in Arbeit haben. Zu Hause bringen sie dann Handschellen ins Ehebett mit und urgieren Popoklatsch und wundern sich, dass ihr Mann, anstatt sich ehelich belebt zu fühlen, einen Lachkrampf bekommt und sich anschließend scheiden lässt.Aber soweit sind wir nicht. Noch sind wir im Bad. Es ist heiß, und langsam kriegen wir Hunger.

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