Mein Leben ohne mein Ich
Von Guido Tartarotti
Jetzt lebe ich seit genau einem Jahr ohne mein Ich. Und mir geht nicht das Geringste ab. Im Gegenteil: Mein Ich war teuer, es stand oft unnötig im Weg herum, und es machte mich unfrei. Ständig drängte es sich in den Vordergrund und verlangte, dass das Leben um es herum geplant werden müsse.
Im Unterschied zu anderen Menschen fand ich es auch anstrengend, mich mit meinem Ich zu befassen. Ich habe es nicht ein einziges Mal gewaschen. Am langweiligsten war es für mich, ständig mein Ich lenken zu müssen: Ich fühlte mich bedrängt von anderen Ich-Besitzern, gebremst im Ich-Stau, gefährdet von aggressiven Trotteln, die ihren übergroßen, geländegängigen Ichs ungebremsten Auslauf gewährten. Ich geb’s ja zu: Ich fand lebenslang keine Beziehung zu meinem Ich.
Während die anderen Kinder mit ihren Spielzeug-Ichs spielten, wollte ich lieber in Ruhe lesen. Ich erwarb auch nur deshalb eine Lizenz zum Steuern meines Ich, weil meine damalige Freundin meinte, einMann ohne Ich sei peinlich. Vor einem Jahr war es dann vorbei mit meinem Ich. Mein Ich gab röchelnde Geräusche von sich, es wurde immer langsamer, und, um ehrlich zu sein, manchmal stank es. Ich brachte mein Ich in die Werkstatt, wo man mir sagte, dass eine Reparatur meines Ich sich nicht mehr lohne. Wirtschaftlicher Totalschaden. Dabei war mein Ich erst fünf Jahre alt und gut gepflegt. Vielleicht hätte ich mein Ich nicht bei der Firma Fiat kaufen sollen.
Ist es Ihnen schon aufgefallen? Bei uns sagt man "Ich", wenn man "Mein Auto" meint: "Wo stehst du?" – "Ich steh zwei Gassen weiter." Komischerweise sagt niemand "Ich steh im Badezimmer", wenn er von seiner Waschmaschine redet, dabei ist die ja genauso ein Gebrauchsgegenstand. Seit einem Jahr habe ich kein Auto mehr. Ein schönes Gefühl. Ich bin wieder ich.
guido. tartarotti(at)kurier.at