Meinung/Kolumnen/Ueberleben

Die subjektive Realität

Wir Menschen glauben, dass wir sehen, was existiert. In Wahrheit existiert das, was wir sehen. Wir konstruieren uns unsere Realität durch Beobachtung. Realität ist das, was wir beachten – und das, was wir nicht beachten, fliegt raus aus der Wirklichkeit.

Es gibt keine Geschichte, die das schöner belegt, als die von der Seattle-Windschutzscheiben-Epidemie des Jahres 1954: Im Zuge einer Massenhysterie bemerkten Tausende plötzlich geheimnisvolle Kratzer und Dellen in den Windschutzscheiben ihrer Autos. Die Spekulationen über den Grund dafür reichten von außerirdischen Strahlen über geheime Kampfstoffe und aggressive Sandflöhe bis zu paranormalen Phänomenen. Irgendwann kam jemand drauf: Diese Kratzer und Dellen sind völlig normale Anzeichen von Abnutzung, sie sind auf jeder Windschutzscheibe zu finden, wenn man nur genau hinschaut. Nur hatte bis dahin niemand darauf geachtet. So ticken wir Menschen (ticken ist ein blödes Wort, nur Selbstmordattentäter mit Zeitbombe ticken wirklich): Wir bewerten, worauf wir achten, wir ignorieren, worauf wir nicht achten – und wir suchen Zusammenhänge, je geheimnisvoller, desto schöner.

Genau deshalb funktioniert Astrologie: Unsere Eitelkeit bringt uns dazu, passende Aspekte eines Textes hoch zu bewerten und die nicht passenden zu vergessen. Es gibt dazu ein sehr schönes Experiment, das seit Jahrzehnten immer wieder durchgeführt wird. Die Versuchspersonen bekommen detaillierte Texte über ihre Persönlichkeit vorgelegt und sollen anschließend bewerten, wie sehr die Beschreibungen zuträfen. Was sie nicht wissen: Sie lesen alle immer denselben Text. Dennoch liegt die angebliche Trefferquote stets weit über dem statistischen Mittel – bei etwa 4 von 5 möglichen Punkten. So funktionieren wir Menschen.

www.guidotartarotti.at

guido. tartarotti(at)kurier.at