Rolle rückwärts statt Purzelbaum
Von Wolfgang Winheim
Die Schere zwischen Sportfreaks und Bewegungsmuffeln geht immer mehr auseinander.
über den Bewegungsmangel
Gleichgültig, ob Winter- oder Sommerzeit: Auf dem Gletscher gehen die Uhren anders. Da kurven teure Geländeautos kolonnenweise die Serpentinen zum ewigen Eis hinauf. Da jubeln Tausende modisch gekleidete, sportive Menschen der noch fescheren Anna Fenninger zu. Da ist wie alle Weltcup-Saisonstarts wieder nichts zu bemerken von einer Wirtschaftskrise.
Und in genau 100 Tagen, wenn in Colorado die WM beginnt, werden Marcel Hirscher und Kollegen auch in den USA Austria-Werbung machen. Werden die Leut’ zumindest in den Rocky Mountains registrieren, dass Beaver Creek WM-Schauplatz ist. Wird sich von Kanzler bis Landeshauptmann die Politik beim Glückwunsch-Mail-Senden matchen um die beste Zwischenzeit.
Was ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel inszeniert, was seine Brett’lartisten in den Kunstschnee zaubern und der ORF stolz zelebriert, ist die netteste Form von Selbsttäuschung. Weil es den Eindruck entstehen lässt, dass ohnehin alles wunderbar sei in Österreichs Sport. Ist es aber nicht. Obwohl abseits von Pisten und Fußballplatz zumindest am Staatsfeiertag viele ihren Puls in der freien Natur in die Höhe schnellen lassen. Nur repräsentieren die längst nicht mehr den "typischen Österreicher" .
Die Schere zwischen Sportfreaks und Bewegungsmuffeln geht immer mehr auseinander. Zwischen solchen, deren Eltern über 10.000 Euro jährlich für eine Skikarriere ausgeben oder sie zum täglichen Balltraining chauffieren, und solchen, die nur noch Fingerübungen am Smartphone machen.
Ungleich mehr Zehnjährige als vor vor zehn Jahren beherrschen nicht einmal einen Purzelbaum. Gewarnt von solchen Trainer-Meldungen schlagen ÖFB-Präsident Leo Windtner und Sportdirektor Willibald Ruttensteiner Alarm. Laut Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer würde Fettleibigkeit den Staat jährlich bereits 12,2 Milliarden Euro kosten. Und in Wien schreibt sich Volleyball-Präsident Peter Kleinmann ("Österreich hat die dicksten Kinder Europas") seit dem Olympia-Desaster 2012 (keine Medaille) mit seiner Forderung nach der täglichen Bewegungseinheit an Schulen die Finger wund. Obwohl vom Parlament einstimmig längst beschlossen, klappt die Durchführung in der Praxis immer noch nicht. Doch es ist nicht immer nur der Gesetzgeber schuld. Vielmehr fehlt dem Sport in Österreich generell der gesellschaftliche Stellenwert.
So wollen Bewohner vor dem westlichen Stadtrand Wiens einen NÖ-Bürgermeister stürzen, weil der einen (seit Jahren genehmigten) kleinen Sportplatzbau zugunsten von 200 Jugendlichen realisieren will. So nannte die ORF-EU-Korrespondentin Cornelia Primosch anlässlich der Nominierung der neuen EU-Kommissare den Sport soeben in Ö1 das uninteressanteste Ressort.
In Wien wurde der Sport in den letzten 27 Jahren von der Bundespolitik wie ein Punchingball zwischen acht Ressorts hin- und hergeschubst. Nur in den Bergen ist die Welt noch ski-heil.