Tagebuch: Auf Stenmarks Spuren
Von Wolfgang Winheim
Der österreichische Marcel wird von Schweizer Zeitungen in ganzseitigen Berichten abgefeiert, wie sie der Schweizer Marcel von österreichischen Medien erst erwarten kann, wenn für Österreich im September erfolgreich die Fußball-WM-Qualifikation beginnt; wenn die von Teamchef Marcel Koller gecoachte ÖFB-Nationalelf Deutschland besiegt. Marcel Hirscher schrieb schon am Sonntag Sportgeschichte. Als Erster seit 1978, seit Ingemar Stenmark, schaffte es Hirsche, die ersten drei Rennen eines neuen Jahres zu dominieren. Als Erster überhaupt hat er innerhalb von 24 Stunden Riesenslalom und Slalom gewonnen in Adelboden. Dort, wo die Stimmung Kitzbühel-Ausmaße übertrifft und die Hausherren (bei zwei Rennen keiner unter den Top 10) zugleich große Verlierer und großartige Gastgeber waren.Fanatismus ist den eidgenössischen Ski-Fans fremd. Sie feierten Hirscher wie einen der ihren. Und als Rainer Schönfelder durch den tückischen Kurs carvte, stimmten 10.000 das Heidi-Lied an – in Erinnerung an die musikalischen Einlagen, mit denen Schönfelder nach seinem Adelboden-Sieg 2004 unterhalten hatte. "Heidi , Heidi. Deine Welt sind die Berge", sang Schönfelder, vom Platzsprecher darum gebeten, dann auch am Sonntag in dessen Mikrofon. Erstmals seit vier Jahren hatte der Kärntner zuvor wieder im Konzert der Großen mitgegeigt, ja sogar Bestzeit im zweiten Lauf erzielt.Schönfelder wahrte damit die letzte Chance. Darf nun auch in Wengen und Kitzbühel auf ÖSV-Kosten logieren, nachdem er als Privatfahrer 80.000 Euro in sein Comeback investiert hatte. Nicht einmal seine Mutter traute es ihm zu. Insider rieten ihm längst zum Aufhören – so wie das soeben ein Schweizer erlebt, der 2009 nach seinem Kitzbühel-Sturz 21 Tage im Koma gelegen war. "Daniel Albrecht vor dem Aus", lauteten in den Sonntags-Zeitungen die Titelzeilen abseits der Hirscher-Bejubelungen. Schweizer Medien können auch gnadenlos realistisch sein.