Meinung/Kolumnen/Tagebuch

Die Angst der Feldspieler vor dem Tormann

Was Manuel Neuer macht, hat oft mehr Fuß als Hand.

Wolfgang Winheim
über die kühnen Grätschen von Neuer

Manche der fast 1,4 Millionen österreichischen TV-Zuseher, die beim Mitternachtskrimi DeutschlandAlgerien ausharrten, werden vielleicht noch mitbekommen haben, wie der deutsche Abwehrrecke Per Mertesacker nach Spielschluss den ZDF-Interviewer anfauchte: „Was soll die Fragerei?“ Konflikte zwischen sensiblen Stars und forschen Reportern haben deutsche WM-Tradition wie späte deutsche Tore. Vor dem WM-Finale 1982 hatte Paul Breitner, der später selbst zum gefürchteten Honorar-Kritiker wurde, aus Frust über überzogene Kritik überhaupt nur noch mit österreichischen Journalisten geredet. Worauf die anschließend von deutschen Kollegen „interviewt“ wurden. Ganz so ist das in Zeiten, in denen bald jeder Zeugwart einen eigenen PR-Berater hat, zwar nicht mehr. Aber sonst wiederholen sich die WM-G’schichterln mit auffallender Regelmäßigkeit: Über die Schiedsrichter wird gemault, weil die nach wie vor weniger sehen als unsereiner nach der 18. Zeitlupe; von enttäuschten Damen des käuflichen Gewerbes im Gastgeberland wird alle vier Jahre wieder berichtet, weil die (finanziell) potentere Fußballfans erwartet hatten; über die ausgeschiedenen Afrikaner wird gerätselt, zumal die trotz individueller Klasse den hohen Vorschusslorbeeren erneut nicht gerecht wurden.

Somit kommt’s zur Abwechslung am Freitag wieder einmal zum Duell zwischen Deutschland und Frankreich. Nur mit dem Unterschied, dass der deutsche Tormann nicht (wie 1982 in Sevilla) n a c h, sondern schon v o r dem Spiel in Mittelpunkt steht. Harald Schumacher, der heute als 1.-FC-Köln-Vizepräsident zu den erklärten Fans des Wiener Trainers Peter Stöger zählt, hatte bei der WM ’82 den Franzosen Patrick Battiston dermaßen brutal gerammt, dass er noch Jahre danach als Feindbild in Frankreich galt. Die folgenschwere Rambo-Attacke (Battiston erlitt einen Wirbelbruch und büßte zwei Zähne ein) beging Schumacher im rücksichtslosen Übereifer an der Strafraumgrenze. Dort, wo sich Torleute ansonsten eher selten aufhalten. Sofern sie nicht Manuel Neuer heißen.

Der 1,93-Meter-(Tor-) Mann legte laut FIFA-Computer 5,5 Kilometer gegen Algerien zurück. Er grätscht bei seinen Ausflügen kühn und wirkungsvoll wie ein Verteidiger. In Wahrheit spielte er auch wie einer: Neuer hat den Torhüterjob neu interpretiert. Was er macht, hat oft mehr Fuß als Hand. Bei seinen Befreiungsstößen landen die Bälle nach 60, 70 Metern (präziser getreten als von einigen seiner Vorderleute) millimetergenau beim gewünschten Mann. Nur die im Wiener Patschenkino um Mitternacht aufgekommene Meinung, wonach Tormann Neuer bei jedem österreichischen Klub auch als Feldspieler Fixstarter wäre, die teile ich nicht. Wer will sich schon 200 Bundesligakicker zum Feind machen?