Im Würgegriff der Darmfloristen
Ein fulminantes Fest in einem dekadenten Theatersaal: Champagner, astreiner Sound, hysterisches Fingerfood, das richtige Licht für Frauen in der 40-sehr-plus-Klasse und all die Menschen, mit denen man die Neunziger erlebt hat und sich sogar in groben Zügen daran erinnern kann. Heterosexuelle in der Minderzahl, hohe Schwestern-Dichte, viel Gekichere. Es macht sich die Illusion breit, dass fast alles wie damals ist, als keine Grenzen irgendeinen Horizont beschränkten. "Na, Schatzi", quiekt ein Ex-MAW ("Model-actress- whatsoever") einem Make-up-Gott zu, "gehen wir wieder einmal essen?" – "Essen?", antwortet der, "bist du von allen guten Geistern verlassen? Ab 15 Uhr kommt nur mehr Zahnpasta über meine Lippen. Hallo!? Schon einmal was von Anti-Aging gehört?" Das MAW lässt nicht locker: "Awesome! Dann treffen wir uns zum Dinner-Cancelling! Ein Glaserl heißes Leitungswasser an Ingwer-Rinde geht aber schon, oder?" Nach zwei Stunden im Konversations- Dickicht weiß ich alles über die Ursachen von Lactoseunverträglichkeit, Glutenallergie, Körpertherapien nach der Avi-Grinberg-Methode und habe jede Menge heiße Tipps für "den allerallerbesten Osteopathen, also der ist wirklich ein Wahnsinn", Nahrungstest-Ambulanzen, Hypnose-Therapeuten und Darm-Floristen. Mir ist ganz schwindelig von dem ganzen Gesundsein. Und just die Typen, die damals am heftigsten auf dem Gaspedal gestanden sind, scheinen am beseeltesten von ihrer Askese-Mission. Ich brauche sehr viel Champagner, um diese Pensionisten-Gespräche auch nur irgendwie zu verkraften. Was für ein Glück, dass mein Ernährungsberater gerade an einem Burnout leidet. Ich trinke einen auf seine Genesung und flüstere meiner Magensäure zu: "Halte jetzt bitte einfach die Klappe! Du hast jetzt nämlich einmal sowas von Sendepause!"
polly.adler(at)kurier.at
Kürzlich erschienen: der erste Polly-Adler-Roman "Venus im Koma"