Worüber man nicht reden kann
Von Barbara Kaufmann
Wir reden nicht viel an diesem Nachmittag.
über Schweigen aus Angst.
Wer immer sich dieser Tage mit seiner eigenen Geschichte in die Öffentlichkeit wagt, wagt viel. Denn alles ist verdächtig. „Scheußlich, wem man sich da alles aussetzt“, sagt meine Freundin und nach einer Pause: „Manchmal auch ausgesetzt wird.“ Wir stehen auf einer Wiese am Kahlenberg und der Wind zieht uns an den Haaren. Es ist der letzte schöne Tag für lange, die Sonne kämpft sich noch wacker durch die Wolken, unter uns liegt Wien im Graublau des November.
Wir reden nicht viel an diesem Nachmittag. Meine Freundin hat erst vor kurzem ihre Mutter verloren. „Ein Jahr ist es schon her“, sagt sie und es klingt ungläubig und schuldbewusst zugleich. Als müsste sie es schon weggesteckt haben, überwunden, weitermachen wie zuvor, sich selbst zuliebe, ihrem Umfeld zuliebe. Aber was ist ein schon Jahr gegen ein ganzes Leben, das man mit einem Menschen verbracht hat?
Wir gehen ein Stück durch den Wald, es ist schattig und kühl. Wir reden über ihre Mutter, über all das, was sie erst erzählen konnte, als sie wusste, sie würde nicht mehr lange leben. „Seltsam, dass man den Menschen nicht verzeiht, wenn sie vergessen wollen“, sagt sie plötzlich. Alles, was nicht sofort gemeldet wird, ist verdächtig. Jedes Ereignis, jedes Geschehen, jeder Moment, sei er auch noch so lange unbegreiflich für diejenigen, die ihn erleben mussten. Als wäre die Seele ein Soldat, der sich zum Rapport melden muss. Immer draußen am Feld, immer am Kämpfen.
Im Schutz des Waldes lässt es sich leichter über das sprechen, was man vergessen muss, um weitermachen zu können. Und all das, was man nicht vergessen kann. Über Einschnitte im Leben, an die man sich nicht erinnern will. „Manches wird nicht mehr gut“, sagt meine Freundin und ihr Atem bildet kleine Wolken vor ihrem Gesicht. Es gibt auch ein Recht auf Verdrängung, so hat es Guido Tartarotti einmal formuliert. „Genau“, nickt meine Freundin, „genau das meine ich.“ Auch deshalb spricht man nicht über Schreckliches, das einem widerfahren ist.
Natürlich gibt es ein Schweigen aus Angst. Die ohrenbetäubende Stille der Ohnmacht, die sich ausbreitet, wenn man an Dingen rührt, die viele Jahre lang fest eingeschnürt in Kisten lagerten, am Dachboden, im Keller, ganz hinten im Schrank. Weil man weiterleben wollte. Ohne ihren Ballast.
Es ist nicht nur die Angst vor den anderen. Vor denjenigen, die einen sofort unter Verdacht stellen. Es ist die Angst davor, was es mit dem eigenen Leben macht, wenn man die Kisten aufschnürt, den Schmerz zulässt. „Es hat so viel Kraft und Zeit gekostet, das alles wegzupacken“, sagt meine Freundin und sie denkt an ihre Mutter und auch an sich. „Warum soll man es wieder hervorholen?“
Da fällt mir plötzlich ein Hölderlin-Zitat ein, das mir vor kurzem wieder untergekommen ist. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Dort, wo es brenzlig wird, wo es an die Substanz geht, da gibt es auch Hilfe, Unterstützung, Solidarität. „Schade“, sagt meine Freundin, „dass meine Mutter so lange geglaubt hat, dass sie alles allein durchstehen muss.“
Wir treten aus dem Wald heraus auf eine abschüssige Wiese und als es beginnt bergab zu gehen, hängen wir uns bei der anderen ein.