Wenn die Welt einstürzt
Von Barbara Kaufmann
Wer Hass im Netz erlebt, wird oft allein gelassen.
Wenn die Welt einstürzt.
In meiner Schulzeit lebte ich in mindestens zwei Welten. Es gab jene Freundinnen, die immer schon da gewesen waren, so lange ich denken konnte. Kinder von Freunden meiner Eltern, die ich nie verloren hatte. Bei keinem Umzug, keinem Schulwechsel, keiner noch so radikalen Veränderung meines Ichs, wie sie zwischen 14 und 18 öfter vorkommt, als man es manchmal selbst ertragen kann. Diese Freundinnen waren mir immer geblieben und einige von ihnen kenne ich noch heute. Wir waren schon damals nicht regelmäßig in Kontakt, aber wenn wir zusammen waren, fühlte es sich immer an, als wäre kein Tag verstrichen seit dem letzten Eis, dem Wettrennen am Steg im Schwimmbad, den Nächten vor der Almhütte, in der unsere Eltern Lieder sangen, so falsch, so übermütig und so laut, dass wir mit den Augen rollten und uns sehr erwachsen vorkamen neben ihnen.
Dann gab es die Nachbarskinder, mit denen ich im Hof spielte, gemeinsam zum Bus spazierte, auch wenn wir zu anderen Schulen gingen. Auf die ich am Nachmittag schon sehnsüchtig am Fenster wartete und deren Schritte ich im Hof erkannte, selbst wenn sie noch außer Sichtweite waren. Die Nachbarskinder waren wie Leihgeschwister. Oft aßen wir gemeinsam zu Mittag, sahen an regnerischen Tagen zusammen fern, rauchten später heimlich unsere ersten Zigaretten unter der Trauerweide im Waldstück am Rande unserer Siedlung. Im Sommer waren wir unzertrennlich, hockten nachts auf unseren Balkonen und flüsterten in Joghurtbecher, die wir mit einer roten Wollschnur verbunden hatten. So laut, dass wir uns auch ohne unser „Bechertelefon“ gut hören konnten.
Die Hoffreundinnen verstanden auch, wenn sie manchmal wegen anderen versetzt wurden. Für jene, die mit den Jahren immer wichtiger wurden, weil sie das Alltagsleben bestimmten. Weil sie darüber entschieden, ob man unglücklich oder zufrieden die Schule verließ, ob man im Pausenhof Rädelsführerin, bewundert und immer ganz vorne dabei war, dazu gehörte, in ihre Mitte genommen wurde oder als Außenseiterin allein dastand, unbeachtet von den anderen das Jausenbrot aß. Es waren mehrere Welten, in denen ich lebte und wenn es mir unangenehm wurde in einer, – zu eng, zu kalt, zu hart, – dann wechselte ich eben in die andere. Denn diese Welten wussten nichts voneinander.
Heute ist das anders. Heute ist der digitale Pausenhof auf Facebook oder WhatsApp miteinander vernetzt, bis in die kleinsten Winkel, bis in alle Lebensbereiche. Wer dort gedemütigt wird, wird es vor vielen. Da gibt es kein Verstecken, da wissen alle Bescheid. Da sieht jeder jeden. Da werden Peinlichkeiten hundertfach verbreitet, kleine Fehler nicht vergeben, aufgeblasen und schließlich riesengroß, bis die Betroffenen davon erdrückt werden.
Wer Hass im Netz erlebt, für den stürzt oft die Welt ein. Der wird allein gelassen, der weiß oft keinen Ausweg, der lebt tagelang in Angst und Isolation wie Teenager, die Opfer von Cybermobbing wurden, oft berichten. Es braucht mehr Schutz, mehr Unterstützung, mehr Stärkung der digitalen Courage. Es braucht mehr Bewusstsein seitens der Politik, mehr Engagement. Es muss mehr passieren. Und nicht darauf gewartet werden, bis wieder etwas passiert.