Meinung

Was man nicht wissen kann

Was weiß man schon voneinander, was darüber, was der andere gerade durchmacht?

Barbara Kaufmann
über was man nicht wissen kann.

Ein Friseursalon ist ein guter Ort, um mit sich allein zu sein. Man kann aus dem Fenster sehen, ohne dass jemand fragt, warum. Man kann Bücher zu Ende lesen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, warum man so unkommunikativ ist. Man kann in Zeitschriften schmökern und in den Skandalen anderer Leute, ohne gleich an die eigenen erinnert zu werden.

Der Friseursalon, dem ich alle vier bis fünf Wochen einen Besuch abstatte, ist ein schöner, heller Raum mit hohen Wänden. Ein Fluchtpunkt in der grauen, lauten und hektischen Hauptstraße, in der er liegt. Er ist selten überfüllt, vor allem nicht am späten Vormittag unter der Woche. Meine Friseurin ist Mitte 40, herzlich, energisch, resolut. Verbindlich, jedoch nie zu persönlich. Sie fragt nicht zu viel und auch nicht zu wenig, sodass man sich nicht fremd fühlt, aber auch nicht überfordert.

Beim letzten Besuch blätterte ich gerade durch eine Illustrierte, da öffnete sich die Tür und eine Dame, vielleicht Mitte 60, betrat den Raum. Sie brachte eine seltsame Unruhe mit. Kaum hatte sie Platz genommen, bemerkte sie dass sie ihren Mantel, den sie zunächst nicht ausziehen wollte, doch lieber abgeben würde. Sie redete nicht viel und trotzdem ging von ihr eine Spannung aus, die mich nervös machte. Noch während die Friseurin mit ihr ihre Wünsche durchging, bat sie darum, den Platz wechseln zu dürfen. Das Licht würde sie blenden. Sie setzte sich um, rutschte ein wenig am Stuhl hin und her, doch auch dieser Platz war ihr zu hell. Die Friseurin bemühte sich zu erklären, dass die Neonlampen durch die vielen Spiegeln greller wirken würden. An grauen Tagen wie dieser einer gewesen war würde das besonders auffallen. Die Dame war nicht beruhigt. Nervös nestelten ihre schmalen Finger an ihrer Tasche herum. Sie suchte etwas, aber es war unklar, was. Als die Friseurin zu schneiden begann, fragte sie ständig, was sie tat und warum und wie viel sie wegnehmen würde. Ihre Anspannung übertrug sich auf mich und ich hatte es plötzlich eilig, zu gehen. Als ich bezahlte, warf ich meiner Friseurin einen genervten Blick zu. Doch sie sah mich traurig an, beugte sich nach vor und erklärte mir leise, dass es sich bei der Dame eigentlich um eine liebe Stammkundin handeln würde.

„Ihr Mann ist gestorben. Da gleich ums Eck.“ Er hatte am späten Nachmittag als es schon dämmerte die Wohnung verlassen, um einkaufen zu gehen. Ein Autofahrer hatte ihn nicht gesehen. Er starb an den Verletzungen. Ich warf einen Blick auf die alte Dame und plötzlich schämte ich mich für meine Gedanken von vorhin, für meinen Ärger über sie. Was weiß man schon voneinander, was davon, was der andere, der einem kurz begegnet, durchgemacht hat und immer noch durchmacht?

Wenn einem ein Mensch, mit dem man das ganze Leben geteilt hatte, für immer entrissen wurde, ohne Vorwarnung, von einem Moment auf den anderen, musste das schrecklich sein. Es würde auch mich unsicher machen, ängstlich, nervös. Ich könnte der Welt nicht mehr vertrauen. Ich zahlte und verabschiedete mich besonders freundlich, auch von der alten Dame. Sie hob überrascht den Kopf und nickte mir zu. Und für einen kurzen Moment erwiderte sie mein Lächeln.

barbara.kaufmann@kurier.at