Meinung

Russische Nächte

Er hatte meinem Vater als Kind Halt gegeben in den Wirren der Nachkriegszeit.

Barbara Kaufmann
über den Urgroßvater aus Russland.

Ich war noch nie in Russland. Ich weiß nur wenig über das Land, das so fern ist, so riesig groß, so fremd. Und doch ist Russland nie weit weg gewesen in meiner Kindheit. Es war immer da, oftmals Thema, meistens aufgebracht von meinem Vater, der an Russland hing, ohne je dort gewesen zu sein.

Wie viele Kriegskinder war er ohne Vater aufgewachsen und der einzige, der mit ihm Pfeifen schnitzte aus kleinen Ästen, ihm Fahrradfahren beibrachte und nachts mit ihm draußen am Feld am Heimweg von der Arbeit über das Leben nachdachte, war sein Großvater gewesen, ein Russe. Mein Vater lernte von klein auf von ihm russisch und manchmal, wenn er müde war und die Nacht schon lang, sang er mir ein russisches Lied vor, das schön klang und traurig zugleich. Er musste es gar nicht übersetzen. Wenn er von seinem Großvater sprach, wurden seine Augen weich und verträumt. Er hatte ihm als Kind Halt gegeben in den Wirren der Nachkriegszeit und war doch nie angekommen in diesem Land, das so fern war von seinen Liebsten, die er verlassen hatte.

Der Urgroßvater war geflüchtet und froh hier zu sein, sicher zu sein vor Tod, Folter und Verfolgung. Trotzdem plagte ihn das Heimweh, sein Leben lang. Er war ein ruhiger, nachdenklicher, wortkarger Mann, der davon lebte, dass er Körbe flocht und Hilfsarbeiten erledigte am Hof oben am Hügel über dem Dorf. Aber manchmal, erzählte mir mein Vater, kam er nachts nicht nach Hause, saß draußen auf der Wiese, rauchte selbstgedrehte Zigaretten aus Tabak, den er aus den weggeworfenen Stummeln zusammengesammelt hatte und dachte an die Heimat. Er wurde melancholisch, seine Augen feucht und mein Vater setzte sich stumm zu ihm, hielt ihm die Hand und konnte ihn doch nicht trösten.

Nicht einfach

In der Zeit nach dem Krieg war es nicht einfach, der Enkel eines Russen zu sein. Einmal haben ein paar Kinder aus dem Dorf am Heimweg von der Schule Steine nach meinem Vater geworfen. Sie haben „triff den Russ“ gespielt und mein Vater rannte und kam atemlos, aber ungetroffen zu Hause an. Die Urgroßmutter hatte ihre Schürze abgelegt und nach ihrem Stock gegriffen, fest entschlossen ihn zu verteidigen. Doch ihr Feldzug endete nach wenigen Metern, denn sie war nicht mehr die Jüngste. Wenigstens konnte sie die Kinder vertreiben.

Mein Vater hat russische Kunst geliebt. Er mochte den Pathos und die Intensität von Schostakowitsch und Rachmaninow, er verehrte Tschaikowski und gab mir schon früh Bücher von Tolstoi und Dostojewski zu lesen und die Stücke von Tschechow. „Russisch“, sagte er, „ist die Sprache zum Dichten und zum Träumen“. Aber ich brachte bei den Romanen schnell die vielen Namen durcheinander und legte sie schließlich ungelesen weg. Mein Vater ist gestorben, ohne mir ein Wort jener Sprache beizubringen, in der er so gerne geträumt hatte.

Das Grab meines Urgroßvaters gibt es nicht mehr. Dort wo es war, ist heute eine wilde Wiese, auf der im Sommer die Glockenblumen blühen. Irgendwann möchte ich nach Russland, in das Dorf, aus dem mein Urgroßvater einst kam. Um zu sehen, ob ich etwas finde, das mich an ihn erinnert. Und irgendwann werde ich all die Bücher zu Ende lesen, die mir mein Vater geschenkt hat. Ich habe es nicht vergessen.

eMail: barbara.kaufmann@kurier.at