Kein Denkmal für 2017
Von Barbara Kaufmann
Es war ein Jahr, in dem ich zu viele Menschen verloren habe.
über Jahresrückblicke.
Am Jahresende kommt der Föhn. Kaum brechen die letzten Dezembertage an, stürmt es draußen am Balkon. Jahr für Jahr stärker, bilde ich mir ein. Also schnell hinaus, um die schweren Blumentöpfe in Sicherheit zu bringen, in denen kaum etwas wächst, weil ich kein Talent habe zum Aufziehen, Pflegen und Ernähren. Nicht dauerhaft. Aber immerhin fällt es niemand anderem auf den Kopf. Wenn jemand fällt, dann fällt er. Aber man möchte nicht Schuld daran sein, wenigstens nicht in diesem Fall. Der Wind bläst ums Haus und eigentlich ist es zu warm für Ende Dezember. Trotzdem ist es kalt geworden im Land. Und es wird wohl noch kälter.
Ein Jahr ist zu Ende und es war ein Jahr, in dem ich zu viele Menschen verloren habe, die immer da waren. Keine älteren Verwandten, die seit jeher ein paar Schritte vor einem gegangen sind, sondern Menschen in meinem Alter, mit denen ich gleichzeitig losgegangen bin. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich wie damals am Schulwandertag nach rechts und links blicke und ängstlich durchzähle, ob noch alle da sind. Bei jenen, die es nicht mehr sind, nicht mehr Seite an Seite mit mir gehen oder zumindest in Rufweite, tut mir nichts leid, was gesagt wurde. Vielmehr bereue ich, was ungesagt geblieben ist. „Pure Vernunft darf niemals siegen“, singen Tocotronic. Und doch tut sie es zu oft in Beziehungen und Freundschaften.
Jahresrückblicke sind etwas für Menschen, die an Erinnerungen glauben und daran, dass man sie jederzeit hervorholen kann. Und sich dann alles genauso anfühlt wie damals als es geschehen ist. Dabei bleichen Erinnerungen allzu oft aus, werden unscharf und unschön so wie die alten Bilder in den verstaubten Fotoalben, auf denen man klein aussieht und fremd, mit roten Augen und orangen Haaren.
Ich mag keine Denkmäler
Vielleicht baut man deshalb Denkmäler. Um Erinnerung in Stein zu hauen, wo sie nicht so schnell verwittert und überschrieben werden kann von den Erinnerungen der anderen. Ich mag keine Denkmäler. Diese monströsen Monumente, an denen man sich die Knie stößt. Auf denen man im Sommer friert und im Winter abrutscht. Mir sind Rahmen lieber. Wenn man etwas einrahmt, dann ist es vorüber. Dann hat man verstanden, es ist wirklich vorbei. Dann hängt man es zu den anderen Augenblicken, die über Nacht zur Vergangenheit wurden. Tom Waits hat einmal ein sehr schönes Lied darüber geschrieben.
Ein Jahr ist zu Ende und ich zähle durch, links und rechts von mir wie damals am Wandertag. Und bin dankbar für alle, die da sind. Für diejenigen, die weiterhin Seite an Seite mit mir gehen und jene, die sich in Rufweite befinden. Dafür, dass ihr kommt, wenn ich euch brauche. Für euren Trost und euren Rat und euer Augenrollen, wenn ich mich nicht an ihn gehalten habe. Für all die Umarmungen, die reellen und die virtuellen, für den Beistand und das Zusammenhalten, wenn es wirklich schlimm war.
Für die Trennungen, die wir zusammen überstanden haben. Für die Biere, die wir miteinander getrunken haben. Für die Lachkrämpfe, die uns von unseren Stühlen fallen ließen. Auch wenn es grad sehr unpassend war. Weil ihr zusammen die Welt ausmacht, in der ich mich Tag für Tag bewege. In diesem Jahr und in all jenen, die noch kommen.