Die Frau am Fenster
Von Barbara Kaufmann
Niemand hat sie je gefragt, was sie denkt, was sie werden möchte.
über die Frau am Fenster.
Als Kind verbrachte ich die Sommer und alle anderen Ferien auf einer Alm in einem Dorf am Berg. Das Haus lag an einer breiten Straße so wie alle Hütten und Höfe des Ortes und ihre Ställe. Schon damals standen viele von ihnen leer. Am Ende der Straße befand sich das Wirtshaus des Dorfes, das die Wirtin von ihren Eltern geerbt hatte und allein schupfte, weil ihr Mann im Wald arbeitete.
Anna, die Tochter der beiden, war meine beste Freundin. Hinter ihrem Haus war ein großer Spielplatz für die Kinder der Gäste. Manchmal, wenn besonders viel los war, spielte Anna dort Gutsherrin. Dann stolzierte sie zwischen Schaukeln und Sandkiste auf und ab, drängte sich an der Rutsche vor und gab mir ein Zeichen, es ihr gleich zu tun. „Komm,“ sagte sie dann laut vor den ohnehin von ihrem Selbstbewusstsein eingeschüchterten Kindern, „das ist mein Spielplatz!“ Meistens liefen wir aber auf die Wiesen am Hang über dem Wirtshaus. Manchmal schlichen wir auch in einen der leer stehenden Ställe, auf dessen Dach man klettern konnte und beobachteten alles von oben.
Das Tal ganz tief unter uns, das Wirtshaus und die Frau am Fenster. Sie lebte allein in einem morschen Bergbauernhof, der schräg über dem Wirtshaus lag und war schon sehr alt. Manchmal sahen wir sie in ihrem Garten an den Pflanzen zupfen, aber meistens saß sie am Fenster. Beobachtete die Wiesen, die Straße und uns, wenn wir dort spielten.
Erfundene Geschichten
Wir wusste nichts über die Frau am Fenster, niemand wollte uns etwas über sie erzählen. Und so erfanden wir selbst Geschichten über sie, unheimliche Geschichten und begannen uns vor ihr zu fürchten. Einmal schlichen wir als Mutprobe zu ihrem Garten, da stand sie plötzlich in ihrer Arbeitsschürze vor uns am Zaun, mit einer großen Schere in der Hand. Wir rannten kreischend weg so schnell wir konnten. Wir versteckten uns in Annas Zimmer, bis ihre Mutter uns dort fand. Und als wir ihr erzählten, was geschehen war, sahen wir sie wie wir sie selten gesehen hatten. Sehr verärgert. Sie nannte uns „dumme Kinder“ und dann erzählte sie uns die Geschichte von Maria, so hieß die Frau am Fenster und es war keine schöne Geschichte.
Die einzige Tochter am Hof, ein dominanter Vater, eine unglückliche Mutter, Brüder, die sie als Arbeitskraft betrachteten und dementsprechend behandelten. Einer Heirat stimmte der Vater nicht zu und so lebte Maria als Magd, pflegte die Mutter, bis sie starb und den Vater. Sie passte auf die Kinder des Bruders auf, bis schließlich alle wegzogen und sie allein zurückblieb.
„Niemand hat sie je gefragt, was sie denkt, was sie werden möchte, was sie sich wünscht“, sagte Annas Mutter wehmütig und es klang so als würde sie, die einzige Tochter der alten Wirtsleute, wissen, wie sich das anfühlte.
Von diesem Tag an winkten wir Maria, der Frau am Fenster, immer zu, wenn wir sie beim Spielen sahen. Und sie winkte immer zurück. Eines Sommers war sie verschwunden und als sie nicht mehr da war, fehlte sie uns.
Als Anna 18 wurde, verliebte sie sich in einen Gast aus Italien. Sie packte über Nacht ihre Koffer, ließ alles hinter sich und zog zu ihm. Heute lebt sie als Lehrerin irgendwo im Piemont, hab ich gehört. Ich hab sie nie wieder gesehen.