Der Mann auf der Straße
Von Barbara Kaufmann
Vielleicht hat er hier früher viel Zeit verbracht.
über den Mann auf der Straße.
Unten am Eck, dort wo die kleine Gasse in die breite Hauptstraße mündet, stand ein Mann. Er stand dort schon länger. Schon als ich in das Geschäft meiner Bekannten ging, das sie vor ein paar Jahren neben meinem Haus eröffnet hatte, weil sie etwas wagen wollte. Weil sie daran glaubte, dass Menschen gerne in kleine, persönliche Geschäfte gehen, wo man sich um sie bemüht, ihren Namen kennt und ihnen zuwinkt, wenn sie draußen vorbei eilen. Sie sollte Recht behalten und trotzdem kämpfte sie. Manchmal lief es gut, manchmal war es hart. Aber sie kämpfte weiter.
Der Mann stand am Eck zur Hauptstraße, auf der sich zur Stoßzeit unzählige Autos drängten und jetzt in der Vorweihnachtszeit ebenso viele Menschen auf den Gehsteigen. Nichts davon schien er zu bemerken. Er stand in gebückter Haltung da, die Arme ein wenig von sich gestreckt. Wie ein Baum, der seine letzten Blätter verloren hatte und nun mit kahlen, nach unten hängenden Ästen darauf wartete, dass der Winter vorbei ging. Er lehnte vor einem Schaufenster und blickte nachdenklich durch die schmutzigen Scheiben.
Das war sonderbar, weil es dort nichts zu sehen gab. Nichts außer Schutt und abgebaute Regale, deren Fächer nun an der Wand lehnten. Das alte Geschäft war schon vor Monaten aufgelöst worden. Die nette Dame, der es gehört hatte und die manchmal im Sommer vor der Tür ihren Kaffee getrunken und den Kopf in die Sonne gestreckt hatte, war verschwunden. Niemand wusste, ob sie noch lebte. Als der Mann sich umdrehte, sah ich, dass sein Haar weiß war und sein Gesicht von Falten zerfurcht. Er machte sich bedächtig mit langsamen Schritten auf den Weg und bog schließlich in eine Seitengasse.
Leerer Geschäftsraum
Ich blickte ihm nach, ging zu eben jenem Schaufenster, vor dem er so lange gestanden war und sah hinein. Der Geschäftsraum war leer, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aber wenn man ganz nah heranging und die Nase an die Scheibe presste, konnte man einen Blick in die hinteren Privaträume erhaschen. Eine Kaffeeküche war noch zu erkennen, ein vergessener Teller voller Staub, eine lange Sitzbank, auf der sich die Besitzerin früher vielleicht manchmal in der Mittagspause ausgeruht hatte. Es sah aus wie eine kleine Wohnung und ich fragte mich, wie viel Zeit sie wohl hier verbracht hatte.
Wie sehr diese Familienbetriebe auch immer ein Zuhause für ihre Besitzer waren, in denen ihre Kinder spielten und Bekannte vorbei schauten. So wie immer viele Freunde im Friseurgeschäft meines Großonkels zu Besuch gewesen waren. So wie ich manchmal bei meiner Bekannten im Geschäft saß, mich mit ihr unterhielt, lachte, plauderte, ohne etwas zu kaufen. Weil die Menschen in diesen kleinen Geschäften, an denen wir täglich vorüberlaufen, Nachbarn sind. Ihr Leben Tür an Tür zu uns verbringen, ihre Schaufenster uns vertraut sind, weil sie den Ort prägen, an dem wir leben und die Geschichten, die wir damit verbinden.
Vielleicht ist der Mann ja deshalb so lange vor der leeren Auslage gestanden. Vielleicht hat er hier früher viel Zeit verbracht, in den leeren Räumen nach Erinnerungen gesucht und während alle andere Geschenke kauften und an Weihnachten dachten, hat er von der Vergangenheit Abschied genommen.