Meinung

Briefe an die Freundin

Es ist seltsam wenn jemand einfach verschwindet, ohne dass man sich verabschieden konnte.

Barbara Kaufmann
über Briefe an die Freundin.

14 ist ein hartes Alter. Mit 14 in eine neue Schule zu wechseln, ist noch härter. Als ich 14 wurde, war es Sommer. Es war ein seltsamer Sommer. Er roch nach Ungewissheit, nach Abschied und nach Angst. In der neuen Schule war niemand, den ich kannte. Ich saß allein in der letzten Bank, nervös und darauf bedacht, nicht aufzufallen. Dann kam sie. Sie war zu spät. Und weil sonst kein Platz mehr frei war ganz hinten, setzte sie sich zu mir.

Wir wurden Freundinnen. Wir teilten uns die Kopfhörer ihres Walk Man, die Sehnsüchte einer Jugend in einer Kleinstadt, in der nie etwas passierte. Die Angst vor Menschen und die Angst vor dem Alleinsein. Weil das manchmal dasselbe ist. Sie lebte am Land, in einem Haus mit ihren Geschwistern. Die Mutter war oft im Krankenhaus, der Vater schon vor langer Zeit gegangen.

„Es ist so leer“

Wenn sie nach der Schule ihren Bus versäumte, musste sie vier Stunden warten, bis der nächste kam. Oder zu Fuß gehen. Weit, sehr weit. Zwei Stunden über Wiesen und Äcker. Am Weg gab es ein Dorf, in dem eine Telefonzelle stand. Manchmal rief sie mich von dort aus an. „Es ist so leer“, sagte sie dann in der kurzen Zeit, die uns blieb, bis das Geld aufgebraucht war, „und noch so weit nach Hause“.

Sie war der erste Mensch, der für mich eintrat. Auch wenn die Gegner lauter waren als wir und stark und übermächtig schienen. Sie war der erste Mensch, der mich herausforderte. Weil Freundschaft für sie bedeutete, der anderen etwas zuzumuten und sie nicht zu schonen. Sie war der erste Mensch, der an mich glaubte.

"Familiäre Gründe"

Mit 16 verschwand sie plötzlich aus meinem Leben. Kurz vor den Sommerferien, einfach so, von einem Tag auf den anderen. Ich erreichte sie nicht mehr, die Mutter war einsilbig am Telefon, der Direktor sprach von „familiären Gründen“. Ein Umzug? Ein Unfall?

Ich wusste es nicht. Zu meinem 16. Geburtstag schickte sie mir 16 langstielige rote Rosen. Es waren damals unsere Lieblingsblumen, aber das Geld hatte immer nur für eine gereicht. Die Blumen kamen ohne Absender, ohne Telefonnummer, ohne Hinweis darauf, wo sie war und was mit ihr geschehen war. Ich habe sie nie wieder gesehen. Also schrieb ich ihr Briefe. Zwei Jahre lang, bis die Schule zu Ende war. Und weil ich nicht wusste, wo sie sich befand, stapelten sie sich in meiner Schreibtischschublade.

Wie ein Tagebuch

Als ich nach Wien zog, nahm ich sie mit. Sie wurden im Laufe der Jahre mehr, obwohl ich ihr immer seltener schrieb. Unlängst hab ich sie wieder gefunden. Die Briefe lesen sich wie ein Tagebuch, das man nur für einen einzigen Menschen geschrieben hat. Ich begann wieder einmal damit, sie zu suchen. Ich schrieb alte Schulfreundinnen an, ich recherchierte im Netz. Ohne Erfolg. Vielleicht, dachte ich mir, will sie nicht gefunden werden. Es ist seltsam, wenn jemand geht, ohne dass man sich verabschieden konnte. Es ist unwirklich, als hätte es die Vergangenheit nie gegeben, als hätte man sie sich nur ausgedacht, als hätte man alles erfunden, was man miteinander durchlebt und durchgestanden hat. Als wäre ein Teil der eigenen Geschichte nie passiert.

Die 16 langstieligen roten Rosen hingen lange an meiner Zimmerwand, in jeder Wohnung, in die ich zog. So lange, bis sie irgendwann zerfielen.

barbara.kaufmann@kurier.at