Meinung

Am Schwarzen Brett

Einsamkeit ist mehr als bloß allein zu sein.

Barbara Kaufmann
über ein lähmendes Gefühl.

Es ist ihm sicher nicht leicht gefallen. Einen der linierten Zettel zu nehmen, die da im Supermarkt beim schwarzen Brett liegen. Quadratisch, alle gleich groß, damit sich niemand mehr Platz nimmt als der andere. Vielleicht war er zuerst zögerlich, hat sich nervös umgesehen. Vielleicht hat er darauf geachtet, ob er beobachtet wird.

Vielleicht haben seine Hände sogar gezittert. Wahrscheinlich hat er schon öfter einen Blick aufs schwarze Brett geworfen, als es draußen grauer, kälter und früher dunkel wurde. Als man Balkone und Terrassen einwinterte, die Parkbänke sich leerten, die Parks auch. Als man die Abende wieder zu Hause verbrachte. Hinter verschlossenen Fenstern in gemütlichen alten Küchen, in denen es früher immer eng war, als sich die Kinder darin drängten. Und in denen heute viel Platz ist, wenn man wie er allein lebt. Abends läuft das Radio, um die Stille zu übertönen. Man sitzt auf der Eckbank, löst Rätsel, sortiert alte Fotos oder blickt in die Nacht hinaus, die nicht vergehen will.

Vielleicht ist er auch auf so einer Bank gesessen, deren Bezug noch seine Frau ausgesucht hat. Vielleicht hat er die Einkäufe auf den Tisch gestellt, sie nicht mehr verräumt, weil es niemanden mehr stört. Vielleicht hat er sich noch eine Tasse Kaffee gekocht, die Lesebrille aufgesetzt und zu schreiben begonnen. Mit blauem Kugelschreiber, etwas zittrig, aber gut lesbar „Wo findet einsamer Rentner, Witwer, im kleinen Kreis zu Weihnachten einen Platz zum Mitfeiern?“

Beim letzten Wort hat er sich ein wenig verschrieben, wahrscheinlich aus Aufregung, und die Buchstaben im Nachhinein ausgebessert. Dann hat er den Zettel am schwarzen Brett befestigt, ihn gerade gerückt und gewartet. Ob sich etwas tut, ob es sich gelohnt hat oder ob alles umsonst war.

Gepostet

War es nicht. Eine junge Frau hat den Aushang im Supermarkt gefunden und auf Facebook gepostet. Binnen weniger Stunden haben sich etliche gemeldet, die den Berliner Pensionisten zu Weihnachten zu sich einladen wollten. So viele, dass es für das nächste Weihnachtsfest reichen würde und das danach.

Einsamkeit ist mehr als bloß allein zu sein. Einsamkeit ist lähmend. Sie kommt schleichend, oft in den Abendstunden. Sie stellt sich wie eine unsichtbare Wand zwischen die Betroffenen und den Rest der Welt. Einsamkeit kennt keine Altersbeschränkung. Sie trifft die alleinstehenden Pensionisten genauso wie die frisch Getrennten, die Alleinerzieher, die Pendler, die unter der Woche weit weg von Familie und Freunden in einer anderen Stadt arbeiten. Die Jugendlichen, die nicht mehr nach Hause wollen oder können.

Kleine Angebote

Einsamkeit kann man nicht erkennen, oft nur erahnen. Man kann sie nicht einfach verschwinden lassen, sie dem anderen nicht nehmen, nicht durch gutes Zureden und nicht durch gut gemeinte Ratschläge. Aber man kann kleine Angebote machen im Alltag. Zeigen, dass man da ist. Mit dem Nachbarn im Lift reden, sich beim Essen zur Kollegin setzen, die Verwandten anrufen, von denen man schon lange nichts mehr gehört hat.

Aufeinander Acht geben, auch wenn man schon genug mit sich selbst zu tun hat. Auf den anderen aufpassen so gut es eben geht. Es wird sonst niemand tun. In einem Monat ist Weihnachten.