Wir Österreicher leiden auf hohem Niveau
Man muss kein Politologe sein, um zu erkennen, dass Unzufriedenheit ein entscheidendes Wahlmotiv bei den Nationalrats- und Landtagswahlen war. Es genügt, den Menschen zuzuhören, ÖsterreicherInnen leiden und schimpfen gerne auf hohem Niveau.
Hat man das Privileg, die österreichische Situation international zu vergleichen, ist man erstaunt. Österreich ist eines der besten Länder der Welt. Seit Jahren weisen Untersuchungen Wien als lebenswerteste Stadt der Welt aus, in Rankings der beliebtesten Reiseländer liegt Österreich unter den weltweit besten zehn. Es sind u. a. die stabile Sicherheitslage, die funktionierende Infrastruktur, die gute Gesundheitsversorgung und das überbordende Kulturangebot, die Österreich auszeichnen. Natürlich gibt es auch aktuelle Probleme, z. B. die Wirtschaftsdaten, die Budgetlage oder die rasende Bodenversiegelung sind bedenklich, doch sind solche Entwicklungen für die subjektive Unzufriedenheit verantwortlich?
Keine Stadt der Welt unterstützt Wohnungsmieten so großzügig wie Wien. Das österreichische Gesundheitssystem bietet gratis Zugang für alle, auch wenn es damit an seine Belastungsgrenzen stößt. Arbeitslose und sozial Schwache bekommen Unterstützung, die von manchen als zu hoch, weil demotivierend für Arbeitende, empfunden wird. Man kann bei uns Hilfe in fast jeder Hinsicht bekommen, sei es in der Kinder- und Familienbetreuung, in der Altenbetreuung, bei der Arbeitssuche, im Rahmen der Bildung und in der Freizeitgestaltung. Man kann den Sozialstaat als übertrieben bezeichnen, wie konservative KritikerInnen meinen. Man kann aber auch vertreten, dass dadurch der soziale Zusammenhalt und Friede gefördert wird.
Ist es fehlendes Wissen um diese hohe Lebensqualität, das die Menschen zu den Rechtspopulisten treibt? Ist es ein völlig unverhältnismäßiges Verständnis von der Qualität des Lebens in Österreich im internationalen Vergleich, dass man trotzdem unzufrieden sein kann? Es ist leicht, gegen aktuelle Regierungen zu sein, man wird immer Punkte finden, die rückblickend anders entschieden besser gewesen wären. Gerade in einer Pandemie, in einer global wirtschaftlich angespannten Lage und während zahlreicher Konfliktherde, die vor allem Europa vor ungeahnte Herausforderungen stellen.
Das Leben in Österreich läuft trotz dieser Herausforderungen für weite Teile der Bevölkerung auf einem derart hohen Niveau, dass es eine Frage der Vermittelbarkeit zu sein scheint. Muss es allen einmal richtig schlecht gehen, damit wir die Vorzüge, die wir in Österreich genießen, wieder schätzen, wie einst ein Psychoanalytiker zu mir meinte? Ich hoffe nicht, bin aber selbst ratlos, wie man große Bevölkerungsgruppen aus ihrer irrationalen Unzufriedenheit herausführt. Es wäre wichtig und an der Zeit, diese Frage zu lösen.
Klaus Atzwanger ist Verhaltenswissenschafter und Unternehmensberater.