Meinung/Gastkommentar

Wie weit darf die Ukraine schießen?

Es könnte sehr unangenehm werden für Russland, falls die Ukraine tatsächlich weitreichende westliche Waffensysteme einsetzen kann. Dies könnte eine neue Dynamik bringen und Gespräche ermöglichen. Der Schritt wäre logisch und längst überfällig. Denn wie ist zu argumentieren, dass Russland in völliger Ignoranz des humanitären Völkerrechts sämtliche verfügbaren Kampfmittel – ausgenommen Atomwaffen – einsetzen kann, während sich die Ukraine nur „mit angezogener Handbremse“ verteidigen darf?

Die oft beschworene Gefahr einer Eskalation spielt Moskau in die Hände. Denn während Russlands Militär trachtet, die überlebensnotwendige kritische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören und den kollektiven Widerstandswillen zu brechen, zögern westliche Unterstützerstaaten zunehmend, der Ukraine eine erfolgversprechende Verteidigung zu ermöglichen. Dabei stellen eine ernsthafte Unterstützung und die Suche nach einer Verhandlungslösung keinen Widerspruch dar, weil sich die Konfliktdynamik in Richtung Gesprächsbereitschaft verändern könnte. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, den Preis für Russlands Kriegsführung zu erhöhen.

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Der ukrainische Vorstoß in Kursk war wohl ein erster Schritt in diese Richtung. Durch selektive ukrainische Schläge auf russisches Territorium würde sich Moskaus Kosten-Nutzen-Relation vermutlich binnen weniger Monate dramatisch verschieben.

Potenzielle militärische Ziele wären Führungseinrichtungen, Rüstungsproduktionsstätten, Reservekräfte, Flughäfen, Depots u. ä. Dabei ist eine wichtige Einschränkung erforderlich: Einrichtungen wie Raketensilos, Frühwarnsysteme oder Radaranlagen, die für das strategische Gleichgewicht mit den USA vonnöten sind, stellen ein absolutes Tabu dar! Angriffe auf solche Systeme würden den konventionellen regionalen Krieg auf die globalstrategische Ebene hieven – mit ungeahnten Eskalationsmöglichkeiten.

Durch den ukrainischen Einsatz weitreichender Waffensysteme würde eine gewisse Symmetrie eintreten, da auch Russland mit signifikanten Verlusten auf eigenem Territorium rechnen müsste. Außerdem stünden weniger Wirkmittel zum Einsatz in der Ukraine zur Verfügung. Der große Gamechanger wäre das nicht, aber es könnte eine neue Dynamik in diesen furchtbaren Krieg bringen, die zu Gesprächen führt. Würde Putin dann zur Atombombe greifen? Dafür gibt es keinen zwingenden Grund. Denn eine militärische Niederlage zeichnet sich nicht ab und er kann jederzeit erklären, dass er die Kriegsziele erreicht hat.

Nach zweieinhalb Jahren Krieg steht eine strategische Grundsatzentscheidung an: Soll die Ukraine weiterhin eine unvorstellbare Zerstörung erfahren und militärisch verlustreich zurückgedrängt werden, oder soll sie in der Lage sein, sich adäquat zu wehren und damit die Voraussetzung für Friedensgespräche auf Augenhöhe zu schaffen?

Walter Feichtinger ist Präsident des Center für Strategische Analysen (CSA)