Vielleicht die letzte Chance in Österreich
Sachsen und Thüringen, die Niederlande und Frankreich – überall sehen wir eine ähnliche politische Entwicklung. Der Rechtspopulismus und die extreme Rechte gewinnen signifikant an Boden. Und auch wenn wir noch nicht Thüringen sind, wo jene Parteien, die einen Systemwechsel weg von unserer demokratischen Gesellschaftsordnung anstreben, eine Mehrheit darstellen, liegt auch in Österreich die mittlerweile extrem gewordene Rechte in allen Umfragen auf Platz 1.
Weder die wehklagerische Haltung mancher Linken („Es kann nicht sein, was nicht sein darf“) noch die bei manchen Konservativen verbreitete Ansicht, man müsse die Rechten nur in die Regierung einbinden und schon wäre der Spuk zu Ende, wird die Tatsache ändern, dass das Heer der Unzufriedenen, die Anzahl der Menschen, die weder den Parteien links noch jenen rechts der Mitte zutrauen, die Probleme unserer Gesellschaft zu lösen, ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat. Die nächste Legislaturperiode ist vielleicht die letzte Chance, zu verhindern, dass rechtsextreme Ideologien endgültig mehrheitsfähig werden. „Democracy will win, if we fight for it“, ein Satz von Barack Obama, bringt es auf den Punkt. Kämpfen heißt in unserem Fall, dass wir die vielfältigen Ursachen der Unzufriedenheit beantworten und Lösungen zuführen müssen.
Ursachen und Lösungen
Die aus meiner Sicht wichtigsten Punkte sind:
1) Auf den europäischen Wirtschaftsraum kommen signifikante Risiken zu, die auch die österreichische Wirtschaft treffen werden. Nicht nur ist diese im wesentlichen nicht fit für das digitale Zeitalter, es sind ihr auch Strukturkosten auferlegt, die ihre Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen. Es bedarf daher einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik.
2) Der Kampf gegen den Klimawandel, der notwendig ist, um unseren Kindern einen lebenswerten Planeten zu erhalten, und der bei weitem nicht konsequent genug verfolgt wird.
3) Das Faktum, dass uns trotz der Tatsache, dass wir ein reicher Staat sind, mehr und mehr Armutsfallen begegnen.
4) Eine deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegende Inflationsrate, die – zum Teil hausgemacht – das soziale Ungleichgewicht noch verstärkt hat.
5) Die Vernachlässigung von Investitions- und Infrastrukturmaßnahmen in den Bereichen Bildung – Stichwort Kindergartenplätze und Ganztagsschule – und Transport – Stichwort Öffentlicher Verkehr.
6) Das Alleinlassen des ländlichen Raumes, die Untätigkeit dem sichtbaren „Absterben des Lebens im Dorf“ – das Schließen von Postämtern, Bahnstrecken, Gasthäusern oder Lebensmittelgeschäften – gegenüber.
7) Das Negieren von Problemen im Bildungsbereich – Stichwort: Integration der Schüler mit Integrationshintergrund – und dem Gesundheitswesen – Stichwort: Personalmangel bei Pflegepersonal und Ärzten – und last, but not least:
8) Eine klare, mehrheitsfähige Politik zu Migration und Integrationsfrage, die eine konsequente Bekämpfung des Geschäftes mit illegaler Einwanderung beinhaltet; und eine rasche Abwicklung der Asylverfahren mit Einbeziehung der lokalen Behörden, um soziale Härten zu vermeiden und die Abschiebung voll Integrierter zu verhindern; eine konsequente Abschiebung derer, die keine Aufenthaltsberechtigung haben; verbesserte Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt für Asylwerber und eine härtere Bestrafung jener, die das Gastrecht verletzen.
Ich bin überzeugt, dass es, wenn die nächste Regierung diese Themen konsequent in Angriff nimmt, eine gute Chance gibt, der immer stärker werdenden Polarisierung unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Niemand erwartet perfekte Lösungen. Aber wir benötigen eine Regierung, die sich selbst klare Ziele setzt; die nichts Unbequemes ausspart; die ehrlich und transparent diskutiert; die sich den Versuchen des Populismus widersetzt; die nichts und niemanden ausgrenzt, die aber klare Grenzen setzt, was in einer demokratischen Gesellschaft erlaubt ist und was nicht und die sich selbst als Dienstleister für die Bevölkerung sieht.
Das ist nicht nur die Regierung, die sich eine große Mehrheit der Bevölkerung wünscht, dies ist auch die Regierung, die notwendig ist, um jenen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, die Österreich aus der EU austreten lassen und uns damit in eine ökonomische und kulturelle Isolation führen wollen; unsere Westorientierung zugunsten einer Putinfreundlichen Außenpolitik tauschen und insgesamt unsere demokratische, auf den Prinzipien der Freiheit, Humanität und Gleichheit aufgebauten Gesellschaftsordnung in eine Richtung verändern wollen, die uns historisch schon einmal in die Katastrophe geführt hat.
Progressiv statt illiberal
Nur eine progressive Regierung links und rechts der Mitte, die sich voll zur europäischen Idee bekennt; offen für Veränderungen und Reformen ist, die Pragmatismus vor Ideologie setzt und die untereinander kompromissfähig ist, kann es schaffen, das Vertrauen in die Fähigkeit unseres demokratischen Gesellschaftssystems zu erhalten bzw. dort, wo es bereits verloren gegangen ist, wieder zu erlangen. Auch wenn es für manche zu dramatisch klingt: Wir in Österreich stehen vor der Entscheidung, ob wir den zugegeben manchmal unbequemen Weg des demokratischen Diskurses weitergehen oder den Proponenten der sogenannten illiberalen Demokratie folgen, die uns vormachen wollen, mit autoritärer Führung und einfachen Rezepten die Lösung unserer Probleme zu haben. Unsere Kinder werden uns in der Zukunft zu Recht danach beurteilen,welchen Weg wir gewählt haben.
Gerhard Zeiler ist Medienmanager, President International bei Warner Bros. Discovery in New York, war ORF-Generalintendant und 2016 als SPÖ-Chef und Bundeskanzler im Gespräch