Meinung/Gastkommentar

Reden wir nicht über Sebastian Kurz

Hören wir auf, über Kurz zu reden, fangen wir an über Politik zu sprechen. Denn bei aller Notwendigkeit und Dringlichkeit die bekannten strafrechtlichen Vorwürfe gegen den ehemaligen Bundeskanzler und seinen Mitarbeitern aufzuklären, werden wir die Zukunft unseres Landes nicht in Untersuchungsausschüssen gestalten können. Was auch immer dort und in den weiteren Ermittlungen zutage treten wird, wie viel Akte in diesem Drama noch vor uns sind und ob die politische Karriere von Sebastian Kurz schon bald Vergangenheit ist, wird die Zukunft zeigen.

Für ein lebenswertes Österreich

Hingegen ist es heute Zeit mit Dringlichkeit jene politischen Aufgaben anzugehen, die unseren Kindern ein lebenswertes, faires und prosperierendes Österreich sicherstellt. Aufgaben, die wir Staatsbürger von jeder Regierung – unabhängig ihrer Zusammensetzung – erwarten können. Es ist keine Übertreibung, dass wir heute in einer Zeit leben, die gewaltige Änderungen mit sich bringt und die uns vor existenzielle Probleme stellt.

Probleme, die wir nicht alleine lösen können, für die aber die Mithilfe von uns allen notwendig ist. Das beginnt mit dem für alle sichtbaren Klimawandel, der unser Leben – und was noch viel wichtiger ist das unserer Kinder und Enkelkinder – beeinträchtigen wird, beginnen wir nicht HEUTE gegenzusteuern.

Die letzte Generation

Es ist keine Panikmache, sondern eine wissenschaftlich fundierte Feststellung, dass wir die letzte Generation sind, die noch in der Lage ist, die dramatischen Auswirkungen der Umweltbeschädigung unseres Planeten zu verhindern. Die kürzlich im Ministerrat beschlossene ökologische Steuerreform, das Klimaticket, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs sind mit Sicherheit bei weitem nicht genug, um dieses Ziel auch nur annähernd zu erreichen. Es sind immerhin erste Schritte, denen zugegebenermaßen noch viele folgen müssen. Dazu benötigen wir eine Regierung, die handlungs- und entscheidungsfähig und auch willig ist, diesen Weg konsequent fortzusetzen und die wir an den beschlossenen Maßnahmen und deren Ergebnissen messen – und nicht an der Performance in Untersuchungsausschüssen.

Das zweite immer größer werdende Problem – auch in Österreich – ist das stetig wachsende Ungleichgewicht zwischen jenen, die viel haben und jenen, die nicht oder gerade genug zum Leben haben. Die weltweit wachsende Ungleichheit gilt nicht nur für den Einkommensbereich, sie zeigt sich auch insbesondere in den Bereichen Bildung und Wohnen.

Armut trotz unseres Reichtums

Wir können uns glücklich schätzen, in einem reichen Land geboren und aufgewachsen zu sein. Trotzdem begegnen uns heute vermehrt Altersarmut und andere Armutsfallen, denen alleinerziehende Mütter nur zu oft ausgesetzt sind. Gleichzeitig erleben wir, dass die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems in sozialer Hinsicht signifikant abgenommen hat. Es ist außerdem keine Seltenheit mehr, dass Familien die Hälfte des Einkommens oder mehr für Wohnungsausgaben aufwenden müssen. Ganz zu schweigen von der Frage der Generationengerechtigkeit, die heute weniger gegeben ist als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg und dem nach wie vor signifikanten Entlohnungsunterschieden zwischen Männern und Frauen.

Zugegeben: Viele andere Länder beneiden uns zu Recht um unser Sozial- und um unser Gesundheitssystem, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sich unsere Wirtschaftsordnung in den beiden letzten Dekaden ein deutliches Stück weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zu einem vermehrt unkontrolliert agierenden Kapitalismus bewegt hat, mit allen Konsequenzen, ob finanziell – siehe Finanzkrise – oder politisch – siehe den Aufstieg von illiberalen, autoritären politischen Parteien bzw. Bewegungen in den USA und Europa.

Eine Gefahr für unser demokratisch-liberales Modell

Und die Änderungen in technologischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, die uns bevorstehen, bieten ein signifikantes Gefahrenpotenzial mehr und mehr Menschen „zurückzulassen“ mit all den Konsequenzen für unser demokratisch-liberales Gesellschaftsmodell.

Das Ziel, ein Stück weniger Ungleichheit, ein bisschen mehr Fairness in unsere Gesellschaft zu bringen, ist moralisch UND politisch unverzichtbar.

Die dritte unverzichtbare politische Aufgabe: Heimischen Unternehmen – ob Kleinunternehmen oder multinationale Konzerne – müssen die Ressourcen und Bedingungen vorfinden, um im internationalen Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können. Wir benötigen mehr Investitionen des Staates in die Infrastruktur und weniger Bürokratie; eine Forschungspolitik, die nicht nur auf Grundlagenforschung setzt, sondern sich auf die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Unternehmen fokussiert; mehr Risikokapital für Innovationen, welches wiederum einen funktionierenden Kapitalmarkt erfordert, der zumindest zur Hälfte diese Innovationen finanziert. Wir benötigen ein Bildungssystem, das für die Skills und Fähigkeiten des digitalen Zeitalters ausbildet.

Mehr "Yes, we can"

Und vor allem benötigen wir einen anderen Mindset in Bezug auf die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen. Salopp gesprochen: Ein bisschen mehr Obama’s „Yes, we can“ als „Um Gottes Willen, nur nichts ändern“. Wir haben es selbst in der Hand, politisch die Bedingungen zu schaffen, dass wir den Wandel, dem wir uns gegenübersehen und der unausweichlich ist, so gestalten, dass sowohl unser soziales Gemeinwohl erhalten bleibt als auch jene Prosperität erarbeitet werden kann, für den die österreichische Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg stets Garant war.

Und schließlich dürfen und müssen wir von der Regierung die konsequente Bekämpfung der Pandemie, die entgegen einiger optimistischer Voraussagen nach wie vor nicht vorbei ist, erwarten. So sehr die Regierung beim ersten Auftreten des Virus in Österreich vor eineinhalb Jahren entschlossen und konsequent Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung gesetzt hat, so wenig kann man das von ihr in den letzten Monaten behaupten. Dass Österreich in der Zwischenzeit in puncto Impfquote fast Schlusslicht in Westeuropa ist, ist der beste Beweis für diese Feststellung. Ein Blick in den Süden nach Italien, Spanien und Portugal zeigt wie man mit Mut und Kreativität das Richtige auch bei Gegenwind erreichen kann.

Genau diese vier Aufgabenbereiche sind die wichtigsten politischen Projekte unserer Zeit. Darauf müssten sich die politisch Verantwortlichen konzentrieren und beginnen zu handeln.

Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer die politische Aufarbeitung – die strafrechtliche liegt Gott sei Dank ohnehin in den Händen der Justiz – der bekannt gewordenen Affären zu beenden oder zu verschieben.

Wenn die politische Debatte darüber dazu beiträgt, dass Anstand und Respekt wieder stärker Einzug in die Politik hält und wenn Siegen um jeden Preis und mit allen Mitteln nicht mehr die Ultima Ratio politischen Handelns ist, dann hat die Aufarbeitung sehr wohl politisch Großes geleistet.

Aber sie darf nicht dazu führen, dass sich das politische Geschehen nur mehr um sie dreht. Zuviel steht am Spiel. Schlicht und einfach die Zukunft unserer Kinder.

P.S.: Ein letzter Satz an meine Partei, die SPÖ. Keines dieser oben benannten Ziele ist mit Herbert Kickl zu erreichen. Auch und schon gar nicht in Krisensituationen.

Gerhard Zeiler ist Präsident des US-Konzerns WarnerMedia International (u.a. HBO). Er war CEO der RTL-Group und Generalintendant des ORF.