Fall Schilling: Wie fundiert sind Blitzanalysen?
Mit Verwunderung beobachte ich den EU-Wahlkampf. Statt Programme zu vergleichen und die Chancen und Schwächen der Parteien für die Zukunft Europas herauszuarbeiten, beschäftigen sich österreichische Medien vor allem mit den privaten Chats einer jungen Spitzenkandidatin mit ihren vermeintlichen früheren Freunden und Freundinnen. Ohne selbst auch in diese Diskussion, wie relevant diese Chats für die Eignung einer Spitzenpolitikerin sind, einsteigen zu wollen, möchte ich folgende bemerkenswerte Punkte festhalten.
In einer Runde der Chefredakteurinnen und Chefredakteure auf ORFIII haben mehrere, sicher nicht ideologisch einseitig zuordenbare Journalisten festgehalten, warum sie diese privaten Chats nicht für berichtenswert halten. Dass der Standard diese trotzdem gebracht hat, und nun laufend verteidigt, ist schon erstaunlich, statt einzusehen, dass hier vielleicht eine Grenze falsch gesetzt wurde.
Geht man einen Schritt weiter, und verfolgt die Empfehlungen internationaler Zeitungen oder auch des Presserats, so findet man es als empfohlen, nur ausnahmsweise anonym zu zitieren. 2016 hat zum Beispiel die New York Times Richtlinien verabschiedet, die die Verwendung anonymer Quellen ablehnen. Mit Ausnahme von Einzelfällen, die die nationale Sicherheit oder die persönliche Sicherheit betreffen, soll nur sparsamst mit anonymen Quellen gearbeitet werden – wenn es für die Story unerlässlich sei. Die Zeit spricht im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Chats von Lena Schilling von einem „Abrutschen der Grenzen des Sagbaren selbst im boulevardgestählten Österreich“. Kein Ruhmesblatt für heimische Qualitätsmedien.
Zusätzlich befeuern Politikberater, die immer schon wenige Stunden nach Ereignissen mit erstaunlichen Blitz-Analysen aufwarten, die unsägliche Diskussion mit der Beschreibung von „Professionalitätsmängeln“ bei den handelnden Politikern, die versuchen, die Situation zu beruhigen.
Ich frage mich, ob der Qualitätsanspruch, der von der Politik – von inhaltlicher Sattelfestigkeit und Kommunikationsfähigkeit bei öffentlichen Auftritten bis hin zu privaten Chats –, unter Berücksichtigung der sowieso sehr schwierigen, weil nie wertfreien „Charakterfrage“, erwartet wird, auch für diese Kommentator:innen gilt.
Wäre es im Sinne von Medien als wichtiger Säule der Demokratie nicht wesentlicher, die inhaltlichen Positionen zu vergleichen? Sollten Politikberater nicht auch den Unterschied zwischen den Positionen herausarbeiten, statt über die rasche Einordnung privater Ereignisse diese zu framen und zu befeuern?
Für den 9. Juni ist dieser Wunsch schon zu spät, vielleicht können sich einige in der politmedialen Blase zumindest für die im Herbst kommenden Nationalratswahlen dieser Professionalitätsmängel entledigen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Klaus Atzwanger ist Verhaltenswissenschaftler an der Uni Wien und Unternehmensberater.