Meinung/Gastkommentar

Die Wiederauferstehung des Autoritären

In Brüssel geht vor den kommenden EU-Wahlen die Angst vor dem unübersehbaren Phänomen um, dass sich europaweit zahlreiche illiberale, autoritäre und teils offen demokratiefeindliche Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker breiter, wachsender Anhängerschaften erfreuen. Immer größere Bevölkerungsteile scheinen autoritären Parteien in Europa, die bereits mit umcodierten Bezeichnungen wie „Remigration“ operieren, durch passiv-aggressives Schweigen zuzustimmen.

Was, wenn im Zuge dessen die große europäische Idee der Vielfalt einer dumpfen Enge von Nationalismen zum Opfer fällt? Was, wenn auch kritischere Bevölkerungsgruppen kippen und kaum noch gegen die autoritären politischen Fallensteller aufstehen? Es wird gefährlich, wenn die Anzahl der perspektivlosen Menschen wächst, denn diese bildeten in kritischen Phasen der Geschichte schon wiederholt Mehrheiten.

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Mit freiem Auge sichtbar sind die Polarisierung der Gesellschaft und der schleichende Anstieg des allgemeinen Aggressivitätsniveaus. Menschenverachtende Einstellungen und Vorurteile, sei es gegen ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten, sind auf dem Vormarsch. Demokratische Gefüge verlieren an Qualität, sobald auf das Beibehalten des gesellschaftlichen Zusammenhalts weniger Wert gelegt wird, wenn Dialogfähigkeit und kultureller Austausch schleichend erodieren. Ausschließungen, mit denen ein „völkisch homogenes“ Europa beschworen wird, werden zum populistisch-illiberalen Repertoire des Volkstümelnden.

Doch nicht nur die längst zur Gewohnheit gewordenen „Einzelfälle“ rechter Alltagsrassismen, sondern die Summe der zur Realität gewordenen rechten und linken Stereotype führen die europaweit metastasierende Dekultivierung vor Augen. Sobald sich die vertikale Segregation in einer Gesellschaft verstärkt und das Vertrauen in staatliche Institutionen sinkt, erhalten Feinde der Demokratie Aufwind. Autoritäre Politiker zahlreicher Staaten Europas machen sich diese Mechanismen zunutze, bestreiten das Funktionieren demokratischer Strukturen und höhlen diese dadurch immer weiter aus. Einmal an der Macht, gehen sie im Extremfall mittels Verordnungen direkt gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vor. Sie setzen Opposition und Medien massiv unter Druck und gefährden damit die Grundfesten politischer Partizipation. Nichts, was Österreich in seiner bewegten Vergangenheit nicht durchgemacht hätte.

Die Grenzen des politischen Handelns werden jedoch nicht nur vom Strafrecht, sondern zunächst von der Ethik gesetzt. Es sind ethische Grundsätze, die das moralisch unbeschädigte Sprechen und Handeln in der Politik bestimmen. Einstmals nannte man dieses höchst relevante Phänomen „politische Kultur“. Der moralische Kompass darf in Europa nicht erneut verloren gehen!
 

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien