Meinung/Gastkommentar

Chance für die volle Wahrheit

Die Nationalratswahl ist geschlagen. Kein Politiker braucht Sorge zu haben, dass ihm eine unpopuläre Aussage schaden wird. Das ist jetzt die Chance für die volle Wahrheit bei den Gesprächen über eine neue Regierung. Das heißt nicht, dass im Wahlkampf gelogen wurde, aber es wurde oft nur die halbe Wahrheit gesagt.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach der Konkurrenzfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes. Die halbe Wahrheit lautet: Österreich als kleines, neutrales Land im Herzen Europas mit einem hervorragenden Humankapital, Betrieben mit großem Innovationspotenzial und internationalen Erfolgen ist ein hervorragender Wirtschaftsstandort. Die volle Wahrheit lautet aber: Österreich ist in den letzten drei Jahren bei der Konkurrenzfähigkeit vom 16. Platz weltweit auf den 26. Platz zurückgefallen (IMD-Ranking 2024).

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Derzeit befinden wir uns in der längsten rezessiven Phase der Nachkriegszeit, die Arbeitslosigkeit steigt und die Betriebe beginnen zunehmend Teile ihrer Produktion ins Ausland zu verlagern. Laut Statistik Austria hat Österreich schon in den letzten Jahren an Wohlstand verloren. Eine Kurskorrektur zugunsten des Wirtschaftsstandortes und eine Wachstumsstrategie haben absolute Priorität, sonst ist unser Wohlstand nicht zu halten.

Nehmen wir die heikle Frage, wie sicher unsere Pensionen sind. Die halbe Wahrheit lautet: Die staatlichen Pensionen werden immer sicher sein. Die volle Wahrheit: Die staatlichen Pensionen werden immer sicher sein, die Frage ist nur, in welcher Höhe. Früher Pensionsantritt, steigende Lebenserwartung und der Trend zur Teilzeitbeschäftigung – alle diese Tendenzen wirken sich negativ auf das Pensionssystem aus. Der staatliche Bundeszuschuss zu den Pensionen betrug 2022 noch 23,4 Mrd., 2027 werden es schon 35,2 Mrd. sein. Damit fließt ein Drittel aller Steuereinnahmen ins Pensionssystem.

Eine neue Regierung wird dringend Maßnahmen setzen müssen. Vor allem geht es um eine Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters. Hier ist eine Strategie aus Gesundheitspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik und Qualifikationspolitik notwendig. Ein Jahr späterer Pensionsantritt bringt 2,7 Mrd. Euro. In dem für seine hohen Sozialstandards bekannten Schweden liegt das Pensionsantrittsalter 3,5 Jahre höher. Bei einem Wert wie in Schweden wäre die Einsparung rund 9 Mrd. Euro.

Ferner muss durch steuerliche Anreize für Vollzeitarbeit aus einer Teilzeitgesellschaft wieder eine Leistungsgesellschaft werden. Notwendig ist eine Abflachung der Steuerprogression. Wer zum Beispiel von 20 auf 30 Wochenstunden aufstockt, soll auch netto 50 % mehr bekommen und nicht wie heute zwar brutto 50 %, aber netto nur 32 %.

Appell an die Politik: Bitte jetzt die volle Wahrheit und dringend notwendige Reformen umsetzen.

Günther Stummvoll ist Sprecher der u. a. von Industriellenvereinigung und WKO getragenen Initiative Standort