Meinung/Gastkommentar

Bekenntnis zum „Leben und leben lassen“

Die Debatte zu jenem kulturhistorischen Rahmen, der Österreich weitgehend ausmacht, verabsäumt, der Frage nachzugehen, welche Definition es zu Beginn der Zweiten Republik gegeben hat. Den Begriff einer „Leitkultur“ sucht man vergebens, doch als passendes Substantiv bietet sich „Volkscharakter“ an. Was heutzutage für manche höchst problematisch erscheint, war 1945 nicht bloß von der ÖVP eine selbstverständliche Mentalitätsbeschreibung. Auch die linken Parteien SPÖ und KPÖ sahen in der Verwendung dieses Begriffes eine unumstößliche Leitlinie. Die Tatsache, dass es einen „österreichischen Volkscharakter“ gibt, zieht sich durch unzählige Texte in der Arbeiter-Zeitung und der Volksstimme.

Auf Seite der KPÖ ragte Ernst Fischer heraus. Fischer war 1945 aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt und der führende kommunistische Kultur- und Bildungspolitiker, Mitglied des ZK und einer der zentralen Ideologen seiner Partei. In seiner Schrift „Die Entstehung des Österreichischen Volkscharakters“ beschrieb der historisch versierte Ernst Fischer 1945 die Voraussetzungen und Entwicklungen, die Österreich als eigenständige Nation und als Gesellschaft grundsätzlich charakterisieren. Demnach war die reine formale Zugehörigkeit für Fischer zu wenig. Damalige „Reichs- und Volksdeutsche“ hielt er nur für bedingt integrierbar.

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Abgrenzung

Selbstverständlich bewegten sich seine Argumentationslinien zu einem großen Teil in der zeitgenössischen Abgrenzung „des Österreichers“ zu „den Deutschen“. Keinesfalls bestritt er den permanenten kulturellen Austausch und die Migration mit europäischen Nachbarstaaten, die er vielmehr für eine gesunde gesellschaftliche Weiterentwicklung für absolut notwendig hielt. Doch bemerkenswerte Sätze finden sich in dieser Schrift, die man von einem Spitzenfunktionär der KPÖ der Nachkriegsphase nicht erwarten müsste. Die österreichischen Kommunisten haben immerhin in der Zwischenkriegszeit als einzige (gemeinsam mit dem Christlichsozialen Ernst Karl Winter) von einer „eigenständigen österreichischen Nation“ gesprochen.

Die Nebensätze, die diese Definition begleiteten, sind bemerkenswert: Der Österreicher lehnt „Phrasen und jeglichen Fanatismus ab“. Dies bezieht sich nach Fischer gleichermaßen auf Fundamentalismus in Politik wie in Religion. „Geschwollenes, frommes Getue“ verabscheut der Österreicher wie Vorschriften von außen und „Disziplin und Strammstehen“ generell. Fischer zufolge hätte die Ablehnung der Gegenreformation den Volkscharakter maßgeblich beeinflusst, ebenso gehört „das Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und Zwanglosigkeit zu den Wesenszügen des Österreichers, der Abscheu vor blindem Gehorsam und jedem tyrannischen Prinzip, die tiefe Respektlosigkeit vor angemaßter Autorität, und das Bekenntnis zu dem Grundsatz „Leben und leben lassen“. Eine Ablehnung jeglicher anmaßenden Indoktrination – ob politisch oder religiös – sah Fischer zentral im österreichischen „Volkscharakter“ gelegen. Bemerkenswerte Sätze für einen Kommunisten im Jahre 1945.

Schicksalsgemeinschaft

Aus der Tiefe seiner historischen Argumentation beruht eine weitere Erklärung. Erst die gemeinsam durchgestandene Gefahr gegen den „jahrhundertelangen Türkensturm“ führte zum Zusammenschluss der Österreicher, Slawen und Ungarn im Donauraum und zur „gemeinsamen Notwehr“. Nur wer diese Gefahr begriffen hat, kann sich zu einer verbindenden „Schicksalsgemeinschaft“ bekennen. Diese Schicksalsgemeinschaft wäre auch durch den verheerenden Weltkrieg, der kurz zuvor zu Ende gegangen war, aktuell und zusätzlich bestimmt.

Die „Wurstigkeit (…) und das Ausweichen des Österreichers“ sowie die Tendenz, es jeden recht machen zu wollen, werden so zu einer Gefahr seines nachhaltigen Volkscharakters. Selbst wenn man zahlreiche marxistisch gefärbte Sätze weglässt, bleiben doch Definitionen übrig, die gegenwärtig eine gewisse Beachtung verdienen.

Der KPÖ half dies schlussendlich gar nichts. In der Wahrnehmung der österreichischen Bevölkerung blieben sie die Vasallen der Sowjets, die deren massive Übergriffe bloß zu kaschieren versuchten und deren Politik man in Österreich entschieden ablehnte.

Johannes Schönner ist Geschäftsführer des ÖVP-nahen Karl von Vogelsang-Instituts