Meinung

Ende der Vernunft

Erdoğan stilisiert sein Land zum Opfer.

Dr. Martina Salomon
über die Türkei und Europa

Es ist kaum zu fassen: Da ist ein NATO-Land und EU-Beitrittskandidat – ja, das ist die Türkei – von allen guten Geistern verlassen. Es wirft Deutschland "Nazi-Praktiken" vor und droht den Niederlanden (die den Wahlkampfauftritt einer türkischen Ministerin verhinderten) mit "schwersten Maßnahmen".

Man würde sich eine gelassene, aber entschiedene und professionelle Reaktion der "Gegenseite" wünschen. Aber die (selbst in eigene Wahlkämpfe verstrickten) EU-Länder wetteifern mit Erdoğan & Co, wer weiteres Öl ins Feuer gießt. Damit stärken sie den, den sie zu schwächen vorgeben: Der türkische Ministerpräsident kann sein vom Nationalismus aufgepeitschtes Land zum Opfer stilisieren, was ihm mehr "Ja"-Stimmen zu seiner Verfassungsreform einbringen dürfte, als erwartet. Die Millionen Türken in der EU sind dabei wichtig. Österreich hat sich schon zu Beginn der Auseinandersetzungen aufgeplustert. Aber statt populistischem Gepoltere sollten wir lieber vor der eigenen Türe kehren und zum Beispiel gegen die illegalen türkischen Doppelstaatsbürgerschaften vorgehen.

Dabei brauchen die Türkei und Europa einander. Das Land am Bosporus hatte glänzende Aussichten. Die EU ist ein wichtiger Handelspartner und bereit, Milliarden an Vorbeitrittshilfen (für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildung) zu zahlen. Nun ist der Aufschwung jäh gestoppt, gesellschaftlich geht es zurück ins Mittelalter. Europa wiederum ist in der Flüchtlingspolitik nach dem "arabischen Frühling" erpressbar geworden. Davor hatte Libyen verhindert, dass sich Millionen Afrikaner nach Europa absetzten, jetzt ist es ein "failed state". Diverse Miliz-Banden haben die Schlepperei zum Milliardengeschäft gemacht. In türkischen Lagern sitzen mittlerweile Millionen Flüchtlinge. Platzt der von Angela Merkel eingefädelte Deal mit Europa, dann könnte die Türkei sie weiterschicken. Man sollte über die politische Lage beunruhigt sein.