Meinung

Bedrückende Einblicke in die Klassikwelt

In die Leichtigkeit der Sommeropern und kulinarischen Klassik-Konzerte mischen sich bedrückende Töne: Immer mehr tritt zu Tage, wie durchzogen die klassische Musik von Machtmissbrauch ist, wie besonders junge Musikerinnen und Musiker Übergriffe und Demütigungen erleben müssen.

Die Spanne reicht von eindeutigen Angeboten bis zur Vergewaltigung. Dementsprechende Schilderungen – von Stars wie Jonas Kaufmann bis hin zu jungen Musikerinnen – häufen sich. Erst am vergangenen Wochenende veröffentlichte die Washington Post eine große Recherche. Mehr als 50 Musikerinnen und Musiker der US-Klassik berichten darin über ihre Übergriffs-Erfahrungen mit Instrumentalisten in wichtigen Stellen, Agenten, Dirigenten, Direktoren. Die Erzählungen betreffen u. a. einen Konzertmeister des Cleveland Orchestra, Ausbildungszentren oder auch Opernhäuser.

Die Schilderungen sind oft ähnlich: Junge Musiker am Anfang ihrer Karrieren werden bedrängt – und ihnen werden Hilfestellungen versprochen, die mächtigen Männer stellen Jobs oder positive Einflussnahme in Aussicht. Wer sich weigert, wird hingegen mit Sanktionen bedroht – die mächtigen Männer würden den Ruf und die Zukunftschancen junger Musikerinnen ruinieren. Im beinharten und hypervernetzten Klassikbusiness, wo selbst kleine Talente an entscheidenden Stellen übermäßigen Einfluss bekommen, ist das ein nur zu reales Bedrohungsszenario.

Und vielen Opfern wurde deshalb davon abgeraten, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen – denn der Star könne es sich richten, aber für die jungen Musiker kann so etwas das Karriereende bedeuten. Zumindest Letzteres hat sich wegen der #MeToo-Debatte geändert. Auch gegenüber Stars wie James Levine oder Charles Dutoit gab es nach derartigen Vorwürfen Konsequenzen.

Auch in Österreich gibt es dementsprechende Vorwürfe: Ein Celloprofessor der Wiener Musikuni wurde freigestellt – er wehrt sich dagegen mit einem arbeitsrechtlichen Prozess. Und fünf Musikerinnen erhoben zuletzt schwere Vorwürfe gegen den künstlerischen Leiter der Tiroler Festspiele Erl, Gustav Kuhn. Dieser stellte am Dienstag seine Funktion ruhend.

Wie wichtig es ist, jeden dieser Fälle sorgsam zu prüfen und nicht pauschal zu urteilen, zeigte zuletzt ein beklemmendes Interview mit der Sängerin Anne Sofie von Otter in der Zeit. Ihr Mann, der Theaterleiter Benny Fredriksson, geriet ins Kreuzfeuer einer derartigen Debatte – und beging Suizid. Er habe ein drakonisches Regime geführt und sexuelle Übergriffe geduldet, er habe Menschen zerstört, hieß es in Medienberichten. Kaum jemand traute sich, sich mit Fredriksson zu solidarisieren. Spätere Untersuchungen hätten laut Die Zeit ergeben, dass die Vorwürfe nicht gestimmt hatten. „So kann man eine Person kaputtmachen“, sagt von Otter.

Es gibt in der klassischen Musik viel zu viel menschliches Leid.