Meinung

Adieu, Herr Nachbar!

Nachbarn haben eine sonderbare Rolle im Großstadtleben.

Barbara Kaufmann
über den Mann von nebenan

Es war an einem kalten Winterabend vor einigen Jahren, der so kalt war, dass wir am Heimweg laufen mussten, um nicht zu frieren. Eingehängt ineinander, damit niemand schneller lief und dem anderen verloren ging, kamen wir endlich am eisernen Hoftor an, das sich nur langsam quietschend öffnete. Wir sprangen davor auf und ab, während unser Atem kleine Dampfwolken vor unserem Gesicht bildete. Als wären wir ein Drachenpaar vor dem Eingang seiner Höhle. Wir eilten durch den Hof und da stand vor unserer Haustür eine hohe Gestalt, die wir noch nie gesehen hatten. Ein großer, schlanker Mann, dem das Türlicht ins Gesicht leuchtete und mit zwei hellen, freundlichen Augen um die Wette strahlte. Er haderte offenbar mit seinem Schlüsselbund, also sperrten wir auf und noch im Hauseingang zwischen Tür und Angel machte er einen leichten Kratzfuß, die Persiflage einer Verbeugung und sagte feierlich: „Gestatten, Jelinek.“ Wir lachten alle drei aufgekratzt, berauscht vom Abend und von der angenehmen Wärme, die uns entgegenschlug und Herr Jelinek fragte uns, wie es sich hier so lebte.

Er mochte Menschen

Wir erzählten ihm, dass es ein nettes Haus wäre mit vielen lieben, verschrobenen Menschen darin, die zum Teil schon drei Jahrzehnte hier lebten, sich stritten und liebten. Herr Jelinek mochte Menschen, er betrieb seit Jahren ein Kaffeehaus, da gehörte das dazu. Zum Abschied lachte er sein schelmisches charmantes Lachen und lud uns ein, demnächst mit ihm eine gute Flasche zu leeren, ein bisschen vom Leben zu erzählen und es miteinander gemütlich zu haben. Es kam nie dazu.

Nachbarn haben eine sonderbare Rolle im Großstadtleben. Sie sind sehr nah und doch fremd. Sie gehören zum Inventar des Alltags. So wie die Birke vor dem Balkon, das bunte Schild des Wollgeschäfts ums Eck, der kleine goldene Anker am Schlüsselanhänger, der schon ganz abgegriffen ist, weil man täglich am Heimweg bis zur Haustür damit spielt, um die nervösen Finger zu beruhigen. Nachbarn machen die Stadt zum Dorf. Man trifft sie am Markt, in den Geschäften, in den kleinen Gassen und Nebenstraßen. Man sieht sie täglich in der schönen Gewissheit, dass sie morgen auch noch da sein werden. So wie das Haus, in dem man lebt und die Straße, in der es steht. So sind sie ein Orientierungspunkt, weil man weiß, man ist zu Hause.

Schmäh auf den Lippen

Herr Jelinek kreuzte oft meine Wege, im Hof, tagsüber an den Plätzen rund um unser Haus, abends saß er manchmal auf seinem Balkon neben der Eingangstür. Immer grüßte er schon von Weitem, winkte lässig, die Lesebrille auf der Stirn, immer einen guten Schmäh auf den Lippen, wie man in Wien sagt, wenn man meint, dass jemand das Leben und sich selbst auf sympathische Weise nicht allzu ernst nimmt. Er half beim Tragen, hielt mir die Tür auf, wir sahen uns beim Lift. Immer plauderten wir ein bisschen und immer freute ich mich, ihn zu sehen.

Vergangene Woche ist der Herr Jelinek gestorben. Als ich es erfahren habe, war ich sehr traurig und auch mein Mann schluckte am Telefon. Es gibt nicht viele Menschen, die so aufrichtig herzlich den Alltag ein Stück schöner machen durch ihre Lebensfreude. Die man kaum kennt und die doch alte Bekannte sind. Er wird uns fehlen.

barbara.kaufmann@kurier.at