Leben/Gesellschaft

Waren die Neandertaler gar Kannibalen?

Es sind Funde, die Forscher immer wieder rätseln lassen: Verletzungen und Schäden an Neandertaler-Knochen, die ihnen unmittelbar nach ihrem Tod zugefügt worden sind. Unbekannte Bestattungsriten oder gar Kannibalismus?

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Diese Frage stellten sich kürzlich die Anthropologin María Dolores Garralda von der Universität Madrid und ihr Team. Sie untersuchten die Knochen zweier Erwachsener und eines Kindes, die vor 57.600 Jahren in der Nähe von Marillac-le-Franc, im Südwesten Frankreichs gelebt haben. Der rechte Oberschenkelknochen des etwa zehnjährigen Mädchens zeugt von Schlägen, postmortalen Brüchen sowie eng aneinander liegenden Schnittspuren, „die nicht von Tieren, sondern von Menschenhand stammen“, berichtet Garralda in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins American Journal of Physical Anthropology. Auch an den Knochen der Erwachsenen fanden die Forscher Spuren von Schlägen und Schnitten.

Gewaltsam

Für Garralda ist das kein unbekannter Befund: „Manche Neandertaler-Gruppen schnitten und rissen die Körper von Kindern und Erwachsenen unmittelbar nach deren Tod auseinander.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Wissenschaftler derartige Spuren an Knochen entdeckt haben: 1999 fanden US-französische Forscherteams in einer Höhle in Ardèche in der Region Rhône-Alpes zahlreiche Schädel, Arm- und Beinknochen vom „Homo neanderthalensis“, die gewaltsam zerbrochen wurden. Schabspuren an den Knochen ließen sie vermuten, dass das Rückenmark und das Hirn der Toten anderen als Nahrungsquelle gedient haben könnte. In eine ähnliche Kerbe schlägt die Studie spanischer Forscher aus dem Jahr 2006. In den britischen Proceedings berichten sie davon, dass Hirn und Rückenmark der Toten genutzt wurden. Anhand von Neandertaler-Zähnen konnten sie zudem nachweisen, dass diese in ihren Wachstumsjahren unter Mangelernährung gelitten haben. Es sei durchaus realistisch, dass sie in der Not Teile ihrer Artgenossen gegessen haben.

Ritueller Hintergrund

Der deutsche Neandertaler-Forscher Ralf Schmitz kritisierte die Studie der französisch-amerikanischen Forscher. Er spekulierte, dass die Spuren beim Versuch die Skelette zu präparieren entstanden sein könnten – wie man es von Bestattungsritualen in der Südsee und Australien kenne. Auch María Dolores Garralda vermutet einen rituellen Hintergrund. „Es können Rituale gewesen sein, wie wir sie von verschiedenen Teilen der Welt kennen. Kannibalismus könnte aufgrund der Kultur oder aus der Not heraus ein Grund sein.“ Dennoch betont sie, dass sie die Kannibalen-Theorie für unwahrscheinlich hält. Schließlich wurden an der Fundstätte auch Tierknochen gefunden – „das deutet nicht auf eine Hungersnot hin“. „Bisher konnte man auch nicht nachweisen, dass Neandertaler Menschenfleisch gegessen haben, obwohl es in anderen Populationen durchaus vorkam.“