Von jungen Leuten, die doppelt bestraft werden
Von Uwe Mauch
Heute hat Angelika Schäffel allen Grund, um auf sich stolz zu sein. Sie ist 21 Jahre alt, wohnt in ihrer eigenen Wohnung, macht eine Sozialbetreuer-Ausbildung und sagt dezidiert: „Das ist genau der Beruf, den ich ausüben möchte.“
Schäffel war statistisch betrachtet eines von hundert Kindern. Sie war zwölf, als ihr Vater starb, und 13, als sie mit ihrer älteren Schwester nach Hinterbrühl übersiedeln musste. Im SOS-Kinderdorf kam sie in die Mädchen-Wohngruppe, wo sie ihre Betreuer unverzüglich auf harte Proben stellte. Doch trotz der Rückschläge konnte sie die Schule und eine land- und hauswirtschaftliche Ausbildung abschließen.
Doppelt bestraft
Die große Krise bekam Angelika Schäffel vor ihrem 18. Geburtstag, denn für Volljährige fühlt sich das Jugendamt nicht mehr zuständig und finanziert deren Unterbringung in einer WG nicht länger. Clemens Klingan, der Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf für Wien, Niederösterreich und Oberösterreich, erläutert den drastischen Einschnitt in Schäffels Leben, der viele trifft: „Die jungen Leute werden somit doppelt bestraft. Nicht nur, dass sie aufgrund ihrer Familiengeschichte benachteiligt sind, fallen sie mit 18 häufig auch noch aus allen Betreuungsnetzen.“
Angelika Schäffel, die Sozialforscher „Care Leaver“ nennen, hatte Glück: Ihr Anspruch auf Kinder- und Jugendhilfe wurde verlängert. So konnte sie ihre Sorgen weiterhin mit ihrer Bezugsbetreuerin teilen. Eine große Hilfe, wie sie heute betont. Denn ihr Umzug in eine Wohnung in Wien kam für sie etwas zu früh: „Nach zehn Tagen habe ich gewusst, dass ich dort nicht zu Hause sein kann. Ich habe mich gefühlt wie ein Gast in einem Gästezimmer.“
In solch belastenden Situationen können Jugendliche, die nicht mehr betreut werden, schnell den Boden unter ihren Füßen verlieren. Was der jungen Frau erspart blieb, weil für sie umgehend eine Wohnalternative gefunden werden konnte.
Doppelt wertvoll
„Die wenigsten Menschen sind heute mit 18 soweit, dass sie ihr Leben alleine bestreiten können“, weiß Geschäftsleiter Clemens Klingan. „Öfters taucht noch mit 20 ein Problem auf, sei es finanziell oder psychisch, das man ohne fremde Hilfe nicht bewältigen kann.“
Derzeit müssen die Betroffenen die Verlängerung der Jugendhilfe selbst beantragen. Solche Ansuchen sind Ländersache und werden – je nach Bundesland – unterschiedlich beschieden.
Dabei ist diese Unterstützung auch volkswirtschaftlich leicht zu argumentieren, wie Klingan betont. Er zitiert aus einer Studie des Vorarlberger Rechnungshofs. Demnach kann ein junger Mensch, der auf der Strecke bleibt, der Allgemeinheit bis zu seinem Tod zwei Millionen Euro kosten.
Die jüngsten Erfolge der angehenden Sozialbetreuerin Angelika Schäffel zeigen hingegen, dass sich die gemeinsamen Anstrengungen schnell bezahlt machen. Die 21-jährige Niederösterreicherin hat viel von dem, was sie erlebt hat, gut verarbeiten können. Sie freut sich, dass sie nun einiges an andere weitergeben kann.
„Care Leaver“: Eine Forscherin hat ihre Probleme aufgelistet
Die Ausgangssituation: In Österreich wachsen knapp 14.000 Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf. Eine Studie zeigt, dass sie die Betreuungseinrichtungen besser bewerten als ältere Semester: Jene, die vor 1990 geboren wurden, fällen ein deutlich
kritischeres Urteil.
Die Studienautorin: Melanie Holztrattner arbeitet als Erziehungswissenschafterin an der
Universität Salzburg, sie hat u. a. auch die soziale Situation der sogenannten „Care Leaver“
untersucht. Diese verlieren per Gesetz mit ihrem 18. Lebensjahr ihr Recht auf eine weiterhin professionelle Betreuung.
Das Studienergebnis: Melanie Holztrattner zitiert aus ihrer Studie: „Das Verlassen des pädagogischen Schutzraumes schafft Probleme.“ Sie weiß auch: „Für viele fühlt sich das wie ein freier Fall an, denn sie haben ja keine Familie, in die sie in
schwierigen Situationen jederzeit zurückkehren können.“
Einige Kennzahlen
52.838 Mal wurde im Jahr 2017 laut Statistik Austria Kindern bzw. Jugendlichen eine Erziehungshilfe zuerkannt.
34.053 Eltern bzw. Alleinerziehende haben 2017 externe Hilfe für die Erziehung ihrer Kinder erhalten.
13.646 Kinder und Jugendliche wurden in einer sozialen Einrichtung betreut.
38.952 Mal wurde von der Jugendwohlfahrt abgeklärt, ob das Wohl eines Kindes akut gefährdet ist.
2867 Volljährige bzw. junge Erwachsene im Alter von 18 bis 21 Jahren haben weitere Hilfe von einer Einrichtung bekommen. Diese war von einer Behörde des jeweiligen Bundeslands bewilligt werden.