Leben/Gesellschaft

Wischst du noch oder liebst du schon?

Wer auf die Internet-Seite von Tinder klickt, wird vom perfekten Beziehungsglück empfangen: Fotos von einem jungen, verliebten Pärchen, im Heißluftballon, vorm Eiffelturm, im Fußballstadion. "Jeder Wisch kann dein Leben verändern", steht in großen Buchstaben darunter.

Gemeint ist jene Fingerbewegung, welche die Dating-App so erfolgreich gemacht hat: Jedem User werden Personen aus dem näheren Umkreis vorgeschlagen – entspricht das Foto den Vorstellungen, wird es auf dem Smartphone nach rechts geschoben, wenn nicht, nach links. Hat der andere ebenfalls Interesse bekundet, leuchten die magischen vier Worte auf: It’s a Match!

"Dating-Apokalypse"

Das vom Unternehmen vorgegaukelte Dating-Idyll wurde nun von einer Reportage in der US-Zeitschrift Vanity Fair zerschlagen. Die Autorin hat sich ins New Yorker Nachtleben gestürzt und die Mittzwanziger beim Tindern beobachtet. Ihr Resümee: Die "Dating-Apokalypse" steht kurz bevor. Männer auf der Suche nach unkompliziertem Sex bedienen sich wie in einem Supermarkt, Frauen spotten über die Fotos der anderen. Obwohl jeder Tinder insgeheim "scheiße" findet, würde keiner aufhören zu wischen. Die Behauptung, 30 Prozent der User seien verheiratet, veranlasste das Unternehmen zu einer wütenden Stellungnahme auf Twitter: Ein paar Personen würden nicht die gesamte Tinder-Gemeinde repräsentieren, es gebe sehr wohl glückliche Tinder-Paare.

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Nina Hartmann zählt nicht zu diesen glücklichen Paaren. Die Schauspielerin und Kabarettistin hat ihre Erfahrungen mit Tinder im Stück"Match me if you can"(Termine wieder ab 17. 9. im Metropoldi Wien) verarbeitet. "Vergangenen Sommer habe ich festgestellt, dass meine Freunde pausenlos auf ihrem Handy herumwischen. Ich wollte darüber ein Stück machen, weil Tinder ein Zeichen unserer Zeit ist."

Zu Recherchezwecken meldete sich die 33-Jährige ebenfalls an. "Ich fand es so unromantisch – wie am Fließband. Man entscheidet rein nach dem Äußeren. Kommt es zu einem Match, gibt sich niemand Mühe. ‚Hey‘ ist die Standard-Begrüßung." Plumpe Anmache inklusive: "Mitten in der Nacht hat mir einer eine Nachricht geschickt. Darin stand nur: Bunga Bunga?" Sie habe sich gefühlt, als würde ihre "Intuition in die Irre geführt. Dinge, die mir normalerweise wichtig sind, spielen keine Rolle: wie etwa Stimme und Geruch". Die fehlende Intuition ist auch der Grund, warum man mit Dating-Apps und Online-Partnerbörsen häufig nicht den Traumpartner findet. Zu diesem Schluss kommt der Soziologe Kai Dröge, der sich mit Internet-Dating beschäftigt.

Reale Enttäuschung

Den "Liebes-Logarithmus", der zu Mr. und Mrs. Right führt, gibt es offensichtlich nicht. "Die virtuellen Partner harmonieren zwar irgendwie und verstehen sich, aber Liebe wird nicht daraus." Der Grund: Während die körperlich-sexuelle Anziehung in der Regel am Anfang einer Beziehung steht und das Kennenlernen später erfolgt, ist es im Netz genau umgekehrt. Man tauscht sich lange aus, bevor man sich trifft. Kommt es zum ersten Date in der realen Welt, schlägt der Blitz oft nicht ein, weil die körperliche Anziehung fehlt. Seriöse Plattformen raten daher, sich bald real zu treffen.

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Auf eine weitere Gefahr weist die Psychologin Sandra Gerö hin: "Viele suchen zu lange, weil sie das Gefühl haben, dass sich im Netz ein Partner findet, der noch besser passt. Oder sie sehnen sich nach einem Exoten, der völlig anders ist als sie selbst. Beides ist trügerisch. Denn wir verlieben uns immer wieder in den gleichen Typ. Auf Dauer passt der Mann von Nebenan dann doch besser zu einem als der Partner vom anderen Ende der Welt."

Gerö hat die Erfahrung gemacht, dass viele das Daten via App wieder sein lassen, weil es einfach zu mühsam ist: "Bindungswillige erfahren im Netz immer nur so viel von ihrem potenziellen Traumprinzen, wie dieser von sich preisgibt. Zudem macht man sich ein Bild im Kopf, das mit der Realität nicht übereinstimmt." Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Dass Apps und Netz die jungen Menschen zu ausgefallenen Sexualpraktiken verleiten, legen Blogs wie der von Nina Wagner nah, die über ihre Sex-Erlebnisse mit Tinder-Bekanntschaften berichtet. Gerö glaubt, dass sich Menschen nur bedingt davon beeinflussen lassen: "Junge Erwachsene experimentieren gerne. Manche lassen sich aus Unsicherheit auf Dinge ein, die sie nicht wollen. Wer selbstbewusst ist, lehnt das ab."

Eine Mär sei auch, dass Dating-Apps Beziehungen zerstören: "Eine Ehe, die auf Mangel an Gelegenheiten für einen Seitensprung basiere, ist keine gute Ehe." Generell gilt: "Das Netz ist ein Medium – es kommt darauf an, wie wir es nutzen."

Sie trinkt, kifft, raucht – und hat Sex. Oft und unverbindlich, mit Zufallsbekanntschaften, die zwar ins Bett, aber nicht an den Frühstückstisch dürfen. Von einer fixen Beziehung ist Amy Townsend, Anfang 30 und Journalistin bei einem Männer-Magazin, weit entfernt – und hat nicht vor, etwas an ihrer Situation zu ändern.

Die Hauptfigur der US-Komödie „Dating Queen“ (ab sofort im Kino) verkörpert einen Lebensstil, der bis jetzt eher Männern zugeschrieben wurde: Beziehungsphobiker, die sich von einem Bett ins nächste stürzen – oft mit der Hilfe von Dating-Apps wie Tinder oder Lovoo. Während diese Männer als „coole Aufreißer“ gelten, werden Frauen hinter vorgehaltener Hand oft als „Flittchen“ oder „Schlampen“ abgestempelt. Dass Hauptdarstellerin Amy Schumer nun alte Klischees auf den Kopf stellt, kommt bei den Kritikern gut an – der Spiegel ortete sogar eine „Egalisierung der Geschlechter- und Machtverhältnisse“.

Dabei belegen zahlreiche Studien, dass Frauen in puncto sexuelles Selbstbewusstsein mit den Männern längst gleichauf sind. Der US-Journalist Daniel Bergner schreibt in seinem 2014 erschienenen Buch „Die versteckte Lust der Frau“, dass Frauen (noch) weniger Talent zur Monogamie haben als Männer. „Ein kultureller Wandel hat bereits stattgefunden“, heißt es. „Die Geschichte des libidinösen Mannes und der sexuell indifferenten Frau ergibt für uns keinen Sinn mehr.“ Anders ausgedrückt: Frauen sind eben auch nur Männer.

"Wisch und weg“ – das hört man im Zusammenhang mit der Dating-App Tinder gerne einmal. Klingt nicht besonders romantisch. Wohl deshalb hat das US-Magazin „Vanity Fair“ in seiner aktuellen Ausgabe das Phänomen „Dating Apps“ kritisch durchleuchtet. Betroffene kommen zu Wort – Fazit: Es geht im weitesten Sinne um „Liebes-Fast-Food“, uncharmanter formuliert: Um schnell generierte Quickies. Weshalb das Magazin dunkle Wolken am Romantik-Himmel aufziehen sieht. Von einer „Dating-Apokalypse“ ist gar die Rede.

Tiefgründig? Eher nicht so.

„Gefällt mir nicht“ – sagte dazu Tinder. Und spamte daraufhin Twitter zu – mit empörten Äußerungen zum Vanity-Fair-Artikel. Denn natürlich seien die meisten Tinder-User im Grunde ihres Herzens Romantiker, die sich nach tiefgründigen Begegnungen sehnen. Es wurde diskutiert, inzwischen haben sich alle wieder beruhigt. Das zur aktuellen Dating-Welt-Lage.

Übrigens: Für alle, die noch nicht so genau wissen, was Apps wie Tinder auszeichnet, weil sie vielleicht doch noch auf altbewährte Methoden wie „Anschauen, ansprechen, anrufen“ etc. setzen: Die App zeigt via Smartphone Bilder von möglichen Partnerinnen und Partnern – per „Touch“ (Stichwort: Wisch & Weg) wird vom User entschieden, ob man Interesse an einer gezeigten Person hat. Oder eben nicht. Finden beide „Tinderianer“ Gefallen aneinander, ist es möglich, Nachrichten auszutauschen, um schließlich ein Treffen zu arrangieren.

Homo ludens

Das kann, muss man aber nicht mögen, entspricht aber dem veränderten Konsumverhalten einer Generation, die mit „Bildern“ (Stichwort: Selfies) und Kurzbotschaften aufwächst und lange Liebesbriefe nur mehr aus Büchern kennt. Nicht nur: Das Geschehen ist schnelllebiger – wir sind gewohnt, rasch Antworten auf alle unsere Fragen und Bedürfnisse zu bekommen. Google macht den Massenkonsum an Information möglich – Dating-Apps transponieren dieses Prinzip auf den Liebesmarkt.

Außerdem wird mit Hilfe solcher Apps Homo ludens bedient – die schöne neue Blätterwelt, quasi. Dazu kommt, dass Tinder-User es natürlich gewohnt sind, sich in die Auslage zu stellen, also dem "Markt" zu stellen. Mit Facebook hat alles begonnen.

Es ist insgesamt zu vermuten, dass Dating-Apps nur in den seltensten Fällen zur Vertiefung menschlichen Begegnens führen, sondern vielmehr dazu dienen, dem „Gefällt mir“/“Gefällt mir nicht“-Modus folgend, zu bewerten und zu kategorisieren (inkl. der Tatsache/Gefahr, ebenfalls bewertet zu werden). Ganz sicher sind sie eine weitere Zutat im Spaß-Kosmos. Dass Tinder eine amerikanische Erfindung ist, spielt da ebenfalls eine Rolle: dort existiert traditionell eine Dating-Kultur auf Basis der Unverbindlichkeit. Nicht zu vergleichen mit dem uns geläufigen, ach so aufregendem, „ersten Rendezvous“ (wobei: GIbt es das überhaupt noch???).

Ob man auf Tinder-Art „fürs Leben“ fündig wird, bleibt also zu bezweifeln – doch Tinder als reines Instrumentarium für schnellen Sex zu sehen, ist ebenfalls übertrieben.