Muss das Schulsystem reformiert werden?
Von Ute Brühl
Neustart Schule. So heißt die neue Initiative der Industriellenvereinigung, die Schwung in die Bildungspolitik bringen will. Doch viele Lehrer sind skeptisch. Nach Zentralmatura und Bildungsstandards haben sie genug von Reformen. Muss sich im Schulsystem wirklich etwas ändern? Der KURIER lud zum Streitgespräch: Isabella Zins, Direktorin im BORG Mistelbach und Vize-Obfrau der Bildungsplattform Leistung und Vielfalt, und IV-Bildungssprecher Christian Friesl reden über Risikoschüler, differenziertes Schulsystem und Ganztagsschulen.
KURIER: : Es gibt viele Initiativen, die Schulreformen zum Ziel haben. Braucht es noch eine wie Neustart Schule?
Christian Friesl: Schauen wir uns die Missstände an: Es gibt viel zu viele Schulabbrecher – dazu kommt: 20 Prozent der Pflichtschulkinder sind Risikoschüler, können z. B. nicht ausreichend lesen. Die soziale Selektion ist groß. Das stört mich, weil sich das seit mehr als 25 Jahren nicht geändert hat. Wir meinen deshalb: Es braucht eine Neukonzeption des Bildungssystems. Unser Ziel ist es, Mitstreiter zu gewinnen und das öffentliche Bewusstsein für die Wichtigkeit des Themas zu stärken.
Bildung hat in der Gesellschaft keinen Stellenwert mehr.
Friesl: Dabei ist Bildung in einem reichen Land der Garant für wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt. Das wird einer unserer Aktivitäten sein: Zeigen, was Bildung über Schule hinaus bedeutet, für die Gesundheit, für die Demokratie etc.
Friesl: Niemand sagt: Die Lehrer sind schuld. Eines unserer Ziele ist es ja, die Pädagogen aufzuwerten. Das Lehrerbashing muss ein Ende haben. Natürlich wünschen wir uns, dass es mehr Zusammenarbeit mit Eltern gibt. Es kann nicht alles in der Schule passieren, aber dass Bildung schwerpunktmäßig in der Schule passiert, das dürfen wir verlangen. Um bessere Ergebnisse zu erzielen, müssen wir über zwei Dinge reden: Die Bildungskarriere darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Und wir brauchen ein besser ausgebautes Ganztagsschulsystem.
Zins: Bei der Nachmittagsbetreuung hat sich viel getan. Ich gebe aber zu bedenken, dass in jedem Schulsystem der Welt das Elternhaus die Bildung mehr beeinflusst als die Schule. Darauf weist der Bildungsforscher Stephan Hopmann hin. Es gibt auch keine Hinweise, dass eine Ganztagsschule zu besseren Ergebnissen führt. Wer sein Kind zusätzlich fördern will, tut das. Da will ich den Eltern die Wahlfreiheit lassen.
Friesl: Ich will auch niemandem etwas verbieten. Was ich anbieten möchte: Wer Bildung zu Hause nicht hat, soll Unterstützung erhalten – das Grundlevel bei den Risikoschülern muss gesteigert werden. Die Schule muss verantwortlich dafür sein, dass Schüler am Ende der Pflichtschulzeit die Bildungsziele erreichen. Um das zu erreichen, braucht die Schule mehr pädagogische, personelle und finanzielle Autonomie. Und zur Wahlfreiheit: Davon kann ich nur reden, wenn ich die Angebote habe.
Zins: Sicher wünschen wir uns mehr Gestaltungsspielraum. Ich fürchte aber, dass Autonomie in Zeiten des Sparens bedeutet, dass ich als Direktorin entscheiden kann, ob ich die Latein- oder die Deutschstunden kürze oder welche Werbefirma ich ins Haus lasse. Autonomie würde bedingen, dass man wirklich gestalten kann. Zur personellen Autonomie: Es muss eine Börse geben, die das Personal im Blick hat. Landschulen würden kaum Lehrer bekommen, weil dort wenige hin wollen.
Friesl: Ich würden da gerne zu den Pflichtschulen zurückkommen: In der Steiermark haben wir z. B. 40 Prozent Kleinschulen. Dort wird Autonomie schwer. Schulen brauchen eine kritische Größe, um das von Ihnen geforderte Unterstützungspersonal auch sinnvoll einsetzen zu können.
Zins: Ich kann nachvollziehen, dass jede Ortschaft ihre Schule behalten will. Es wird aber in den nächsten Jahren Zusammenschlüsse geben, weil das nicht leistbar ist.
Friesl: Wir müssen uns anschauen, ob und wo die hohen Investitionen im Bildungssystem ankommen.
Zins: 93 Prozent des Budgets fallen auf die Lehrergehälter.
Zins: Manche sitzen im BIFIE (schmunzelt). Aber all das sind Missstände, die eingerissen sind und keine Systemfehler. Ich hätte von Ihnen gerne den Entwurf eines Gegensystems.
Friesl: Wir müssten bei den Übergängen anfangen, z. B. vom Kindergarten in die Schule. Ich frage auch, ob es so viele Übergänge braucht und wie man sie gestaltet.
Zins: Da ist schon vieles in Veränderung, z.B. gibt es den Begabungskompass für die 13-Jährigen. Eines möchte ich schon festhalten: Das differenzierte Schulsystem ist nicht so schlecht, wie es von manchen dargestellt wird: Das zeigen Studien wie PISA und PIRLS – im internationalen Vergleich holen die Schüler und Schülerinnen in der Sekundarstufe auf, was für die Vielfalt spricht.