Leben/Gesellschaft

Sterbenseinsam in Tokio unter Millionen Menschen

In Schutzanzug und Gummihandschuhen betritt Hidemitsu Ohshima eine winzige Wohnung in Tokio. Der Putzmann kämpft mit beißendem Verwesungsgestank und wuselndem Ungeziefer: Hier liegt seit drei Wochen die Leiche eines Menschen, den niemand vermisste - mitten in Tokio, der mit 38 Millionen Einwohnern am dichtesten besiedelten Stadt der Welt.

"Kodokushi", wie das einsame Sterben hier genannt wird, trifft im alternden Japan immer mehr Menschen. In der 127-Millionen-Einwohner-Nation sind inzwischen knapp 28 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, viele geben die Suche nach einem Partner irgendwann auf. Es gibt keine offiziellen Statistiken über die Anzahl derer, die alleine sterben und tage- und wochenlang unentdeckt bleiben, doch Experten schätzen sie auf 30.000 jährlich. Reinigungsunternehmer Yoshinori Ishimi zufolge ist die tatsächliche Zahl "zwei oder drei Mal so hoch".

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Experten zufolge verschärft sich das Problem durch spezifisch japanische Faktoren: Die Inselnation erlebte in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifende kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen, mit denen das soziale Netz nicht Schritt halten konnte.

Mehr Singles und schrumpfende Familien

"In Japan war die Familie lange Zeit ein starkes Fundament für soziale Unterstützung aller Art", sagt Sozialforscher Katsuhiko Fujimori vom Mizuho Information and Research Institute. "Doch jetzt ändert sich das mit der Zunahme von Singles und den schrumpfenden Familien."

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In den vergangenen drei Jahrzehnten verdoppelte sich der Anteil der Single-Haushalte an der Gesamtbevölkerung auf 14,5 Prozent, vor allem durch allein lebende Männer zwischen 50 und 60 Jahren und Frauen über 80.

Auch die Zahl der Ehen sinkt. Durch die unsichere Lage auf dem Arbeitsmarkt schrecken viele Männer vor der Familiengründung zurück, gleichzeitig brauchen viele Frauen mit eigenem Einkommen keinen Ehepartner mehr, der sie versorgt. Schon heute war ein Viertel aller 50-jährigen japanischen Männer nie verheiratet, bis 2030 dürfte dieser Anteil auf ein Drittel steigen.

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Verschärft wird das Problem des einsamen Sterbens durch die tief verwurzelte japanische Mentalität, sich in Not nur an die Familie zu wenden. Viele ältere Japaner wollen laut Fujimori aus Höflichkeit beispielsweise ihre Nachbarn nicht behelligen. Dies habe einen Mangel an Interaktion und zunehmende Isolation zur Folge.

Rund 15 Prozent der älteren, allein lebenden Japaner sprechen einer staatlichen Studie zufolge nur einmal wöchentlich mit anderen, verglichen mit fünf Prozent in Schweden, sechs Prozent in den USA und acht Prozent in Deutschland. Und immer mehr Kinder und Enkel ziehen weg oder haben nicht genug Geld, um ihren Angehörigen unter die Arme zu greifen. Fujimori befürwortet daher Steuererhöhungen, um die Betreuung von Senioren und Kindern zu subventionieren.

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"Wenn die Familie nicht länger ihre traditionelle Rolle spielen kann, dann muss die Gesellschaft diesem Bedarf gerecht werden", erklärt der Experte. "Wenn nichts getan wird, werden wir mehr einsame Todesfälle erleben."

Spartanische Wohnung

Die winzige Wohnung des Verstorbenen in Tokio wirkt spartanisch - keine Bilder, keine Briefe. Doch er muss Musik- und Filmliebhaber gewesen sein, hatte eine riesige Sammlung von CDs und DVDs. Das meiste landet nun auf dem Müll. Ohshima und seine Kollegen sortieren aber Wertsachen aus für den Fall, dass sich die Familie meldet: "Die Polizei sucht seine Angehörigen", sagt er. "Bisher ohne Erfolg."

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