Leben/Gesellschaft

Schule muss Persönlichkeit bilden

Josef Kraus ist nie um klare Worte verlegen. Der Gymnasiallehrer aus Bayern und Vorsitzende des deutschen Lehrerverbands sieht unser Bildungssystem durch die ständigen Reformdebatten in Gefahr. Heute spricht er bei einer Veranstaltung des Bundes-Schulgemeinschaftsausschuss zum Thema „Was macht chule gut?“ Ein KURIER-Gespräch über Qualität im Bildungssystem.

KURIER: Wie bewerten Sie das Schulsystem in Österreich und Deutschland? Was macht die Schule gut?
Josef Kraus:
Sie leistet mehr als es die Politik mit ihrer ausgeprägten Reformitis zulässt. Diese dauernden Reformen sind in beiden Ländern eines der Hauptprobleme. Die Schulen haben fast keine Chance mehr, sich zu konsolidieren. Zum Glück haben sie eine solide Substanz, so dass es immer noch einigermaßen rund läuft. Das gilt sowohl für das Leistungsergebnis als auch für die Persönlichkeitsbildung, die in der Schule stattfindet. Das sage ich, obwohl viele unsere PISA-Ergebnisse schlecht reden. Angesichts der Umstände, die bei uns erheblich schwieriger sind als beim PISA-Sieger Finnland, stehen wir gut da.

Sie sprechen die heterogenere Schülerschaft bei uns an?
Wir haben in manchen Regionen einen Migrantenanteil von 30, 40 bis 60 Prozent. In Finnland liegt er bei zwei Prozent. Das skandinavische Land hat auch sonst paradiesische Schulzustände: 18 Schüler pro Klasse; Förderlehrer, die sich um die drei schwächsten Schüler kümmern; Gesundheitstrainer, Psychologen etc. Das hätte ich bei uns auch gerne.
Trotzdem sage ich ohne Häme: Im Vergleich zu Finnland haben wir in den deutschsprachigen Ländern ein entscheidendes Plus: Die Jugendarbeitslosenquote liegt zwischen 3 und 8 Prozent. In Finnland liegt sie bei 20 Prozent. Da frage ich mich schon: Was ist das für ein Schulsystem, das die jungen Menschen nicht auf das Arbeitsleben vorbereitet?

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Was machen wir besser?
Das ist das Ergebnis struktureller Vorteile: Das duale Ausbildungssystem und die berufsbildenden höheren Schulen sind ein Garant für eine hohe Beschäftigung.

Unbestritten bleibt: Jeder fünft Schulabhänger kann nicht sinnerfassend lesen. Da versagt die Schule doch.
Das ist in erster Linie nicht das Versagen des Bildungssystems, sondern das Ergebnis einer sehr liberalen Migrationspolitik. Wobei ich einschränken will: Migrant ist nicht gleich Migrant. Wir haben erhebliche Probleme mit Schülern aus Ex-Jugoslawien, den arabischen Ländern und der Türkei. Keine Probleme gibt es mit Kindern aus EU-Staaten. Vietnamesen schneiden besser ab als deutsche Schüler.

Aber diese Kinder leben nun einmal hier. Die Schule muss dieser Tatsache Rechnung tragen.
Ja, sie muss aber auch von den Familien mehr verlangen. Z.B., dass die Familien bereit sind, Deutschkurse zu machen. Die Schule kann ebenso einiges verbessern: Wir haben zu wenig Angebote, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Da brauchen wir Spezialisten. Die zweite Schraube, an der man drehen muss, ist die Bildungsberatung. Die Möglichkeiten, Bildungsangebote zu nutzen, kommen bei einigen Familien nicht rüber. Gut wäre, wenn die Medien, die diese Familien nutzen, einen Beitrag dazu leisten.

Man muss also nur mehr informieren?
Nicht nur. Man muss man sich ordnungspolitisch überlegen, ob man bestimmte soziale Leistungen an die Bereitschaft koppelt, Bildungsangebote anzunehmen.

Es gibt zu wenig Lehrer. Wie schafft man es, gute Pädagogen für den Beruf zu gewinnen?
Eine Ursache des Lehrermangels ist, dass unsere Gesellschaften Probleme mit dem Lehrerberuf an sich haben. Es war lange Zeit Mode, Lehrer auf Stammtischebene madig zu machen. Gerhard Schröders „faule Hunde“ ist ein Beispiel von vielen. Mittlerweile hat sich das Image der Lehrer laut Meinungsforschungsinstitut deutlich verbessert, weil man sieht, dass das ein Knochenjob ist.

Was muss die Politik tun?
Die Bildungspolitiker haben bei Bedarfsplanung völlig versagt. Nichts lässt sich solider errechnen als der Lehrerbedarf. Schule ist ja nicht irgendwelchen Konjunkturzyklen ausgesetzt. Es gibt feste Größen: die Altersstruktur der aktiven Lehrerschaft, die Zahl der Schüler, die Stundenverpflichtung der Lehrer sowie die Klassengrößen. Aufgrund dieser Zahlen hätte man steuern können. Es gab keine solide Personalplanung.

Was also tun?
Es braucht attraktive Quereinsteigerprogramme: moderate Fortbildungsanforderungen und gute finanzielle Rahmenbedingungen.

Nochmals zum Thema: Was macht Schule gut? Welche Faktoren sind nötig, damit Schule erfolgreich ist?
Es gibt vier Grundsätze, die jeder Bildungspolitiker beherzigen sollte: Die Schule muss sich wieder auf das Prinzip besinnen, dass sie keine Anstalt zur Herstellung von Gleichheit, sondern zur Förderung von Individualität ist. Schule muss am Leistungsprinzip orientiert sein. Sie kann nicht nur Spaß- und Begeisterungspädagogik bieten. Schule muss konkretes Wissen und Können vermitteln und nicht nur hohle Kompetenzen. Schule muss Persönlichkeits- und Kulturbildung vermitteln und nicht nur Wissen, das sich in PISA-Tabellen abbildet.

Bleibt für Persönlichkeitsbildung überhaupt noch Zeit? Bildungsstandards oder Zentralmatura setzen die Schüler unter enormen Leistungsdruck.
Die großen schulpolitischen Sünden sind der Verwertbarkeitswahn, der Messbarkeitswahn, der Nützlichkeitswahn und Beschleunigswahn. In dem Moment, in dem ich Unterricht nur noch auf PISA-Ranking-Tabellen ausrichte, bleibt keine Zeit für Persönlichkeitsbildung. Die Schule braucht diese Zeit und Inhalte in den Lehrpläne, die persönlichkeitsstiftend wirken. Das bleibt aber außen vor, weil wir uns sehr an MINT-Fächern orientieren. Geschichtliche, ethische oder literarische Bildung sind Grundlagen für Persönlichkeitsbildung und werden nach und nach vernachlässigt.

Josef Kraus hält heute, Donnerstag, 21. 11.2013, 18 Uhr in der HBLA Straßergasse 37–39, 1190 Wien, Eintritt frei, Anmeldung unter veranstaltung@b-sga.at