Versunken in der digitalen Welt
Wer mit 100 km/h unterwegs ist, und nur eine Sekunde lang auf sein Handy schaut, legt fast 30 Meter "blind" zurück. Einen Telefonkontakt auszuwählen und anzurufen, dauert etwa 48 Sekunden; währenddessen wechselt der Blick an die 25-mal zwischen Display und Straße. Eine noch größere Gefahr sind Textnachrichten, die immer und überall sofort gelesen und beantwortet werden müssen. Egal, was man eigentlich tun müsste. Oder ein Online-Spiel, das von der Arbeit ablenkt. Das kann schon mal Menschenleben kosten. Zuletzt zwölf, als im deutschen Bad Aibling ein Fahrdienstleiter zwei Zügen erst falsche Signale gegeben und später bei Notrufen am Funkgerät die falsche Tastenkombination gedrückt hat. Er habe am Smartphone ein Online-Spiel gespielt, gestand er. Davon abgelenkt gewesen sei er aber nicht.
Das ist ganz typisch: Im Jahr 2013 hat eine Studie ergeben, dass Selbstwahrnehmung und Realität auseinanderklaffen. Menschen, die tatsächlich mehrgleisig fahren können – gut ein Viertel der Testpersonen –, tun es in der Regel nicht. Begründung: Sie konzentrieren sich lieber auf eine Aufgabe. Umgekehrt leiden jene 70 Prozent der Getesteten, die sich als Multitasker einstufen, an Selbstüberschätzung. "Sie tun mehrere Dinge gleichzeitig, weil sie glauben, es besonders gut zu können", sagt Studien-Leiter David Sanbonmatsu von der Universität Utah. Impulsiv und schnell gelangweilt, fällt es ihnen schwer, sich länger auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
Generell ist der Homo sapiens nicht fürs mehrgleisige Fahren geschaffen: Unser Gehirn ist zwar ein Meister im Multitasking – es kann gleichzeitig Verdauung, Blutdruck und Temperatur regulieren. Aber das sind lauter unwillkürliche Reaktionen. "Bei den Dingen, die wir bewusst steuern, z. B. unsere Aufmerksamkeit, hört die Multitasking-Fähigkeit des Gehirns auf. Das, was wir als Multitasking erleben, ist das rasche Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Aufgaben", sagt der Gehirnforscher Jürgen Sandkühler.
Wer fehleranfällig ist
Und das funktioniert auch nicht gut. Forschungen legen nahe, dass vermeintliche Multitasker mehr Fehler produzieren, sie weniger häufig bemerken und auch kaum daraus lernen.
Alle 18 Minuten – so oft schaut ein wacher Smartphone-Besitzer im Schnitt auf sein Handy. Was die Faszination ausmacht, weiß die Wissenschaft längst: Es erlaubt uns die Fähigkeit zur Bilokation – im selben Moment am Klo und in Hollywood zu sein, auf dem Spielplatz und im Meeting.
Glaubt man einer Studie von Microsoft, haben sich unsere Hirne in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten messbar verändert. Ständiges Wechseln von einer Infoquelle zur anderen scheint sich ins Hirn eingebrannt zu haben. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne aber ist dabei von zwölf auf nur noch acht Sekunden gesunken. Am besten untersucht sind die Gefahren, die von der Ablenkung durch Smartphones & Co. ausgehen, im Straßenverkehr. Erst im Februar haben US-Forscher erhoben, dass Smartphone-Gebrauch das Unfallrisiko um das Vierfache erhöht. Besonders bemerkenswert: Die Verkehrsforscher ermittelten, dass die Fahrer insgesamt 52 Prozent der Zeit am Steuer abgelenkt waren.
Hauptunfallursache
In Österreich sind Handys, Navigationsgeräte und ähnliches längst die Hauptunfallursache. Welche Tätigkeiten dabei wie stark ablenken, hat der deutsche Autofahrerclub ADAC in einem Experiment getestet (Grafik unten). Am meisten Aufmerksamkeit fordert das Eintippen einer Adresse ins Navi, gefolgt vom Handy-Telefonieren.
Kein Wunder, dass eine andere Studie ergab, dass Mobiltelefonierer wie Angetrunkene fahren. Dabei ist egal, ob das Handy ans Ohr gehalten oder eine Freisprechanlage benutzt wird. Es gehe nur um das ablenkende Gespräch.
Risikoforscher Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat es unlängst in einem Interview mit dem KURIER auf den Punkt gebracht: "Ich fürchte mich persönlich viel mehr, auf der Straße durch einen Fahrer ums Leben zu kommen, der am Steuer Texte schreibt oder auf WhatsApp oder Twitter schaut, als durch einen Terroristen ums Leben gebracht zu werden." Und er fordert, dass Jugendliche wie Erwachsene sich digitale Risikokompetenz aneignen.
Allerdings: Verdammen hilft nicht. Handys sind gelebte Realität. Und Neurobiologen wissen längst, dass die Herausforderung darin liegt, den schmalen Grat zwischen Über- und Unterforderung zu treffen. Denn: Wer langweilige Routine-Dinge tun muss, bei dem versiegt der Dopaminfluss, die Hirnleistung lässt nach.
Womit wir wieder beim Online-Game spielenden Fahrdienstleiter angelangt wären. Hirnforscher Sandkühler: "Ich kenne seinen Aufgabenbereich nicht, aber nehmen wir an, er war mit einer Überwachungstätigkeit betraut. Das ist zermürbende Routine, die für jeden von uns schwer mit der höchsten Aufmerksamkeit zu bewältigen ist. Die Reize fehlen. Die Gefahren sind sehr selten, sodass man den Aufmerksamkeitslevel nur schwer halten kann." Da sei auch der Dienstgeber gefordert, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass Ermüdung und Routine weniger wahrscheinlich werden. Damit keiner mehr auf die dumme Idee kommt, sich neue Reize durch Videospiele zu suchen.
KURIER: Wie gefährlich ist Ablenkung durch das Smartphone aus Sicht des Hirnforschers?
Jürgen Sandkühler: Wenn wir im Auto telefonieren, kann die Ablenkung lebensgefährlich sein. Wenn wir auf ein Kind aufpassen und wir dabei telefonieren, kann das gesundheitsgefährdend sein. Wir sind permanent gefordert, die vielen Dinge, die auf uns einströmen nach ihrer Bedeutung zu selektieren. Denn es prasseln viel mehr Reize auf uns ein, als wir verarbeiten können. Das Hirn hat aber eine gute Strategie, auszuwählen: Alles, was laut ist, sich schnell bewegt, nahe ist oder emotional eine wichtige Rolle spielt, ist auch wichtig. Alles, was monoton und bekannt ist, wird als unwichtig eingestuft.
Potenzieren sich die Reize durch die neuen Medien?
Ja, zum Beispiel fordern Videospiele, wie im Fall des Zugunglücks, unsere Aufmerksamkeit. Die sind genau dafür konzipiert, dass man sie nicht nach einer Minute gelangweilt beendet, sondern gefesselt weiterspielt. Die Programmierer kennen die menschliche Psyche und den Spieltrieb so gut, dass sie Spiele optimieren können, die dann gegen andere Reize gewinnen, die gleichzeitig auf uns eindringen.
Sind manche Leute anfälliger dafür?
Ja, es gibt Menschen, die schon auf unwichtige Reize anspringen, während andere sich völlig in eine Aufgabe versenken können. Da gibt es genetische Unterschiede.