Sizilianisches Schicksal zwischen Palermo und Nivea
Ich lege mich in den Schatten eines Zitronenbaums und denke nach. Nirgendwo in Europa ist der Himmel so seltsam blau wie über Sizilien. Ein warmer böiger Wind kommt von Afrika herüber und verteilt rote Sandkörner aus der Sahara über der Stadt. Signora Gazzanelli, meine Zimmerwirtin, nimmt die Wäsche von der Leine und schimpft auf die Sahara und auf die ganze Welt. Ich tröste sie ein bisschen und nach einer Weile seufzt sie leise und lacht und sagt mit glücklichen Tränen in den Augen: „Aber manchmal ist das Leben auch sehr schön. Stimmt’s, Giorgio?“
Jedes Jahr fahre ich nach Sizilien. Genauer gesagt nach Palermo. An den Strand von Mondello. Das mache ich jetzt schon seit einigen Jahren so, obwohl ich nicht genau weiß, warum. Irgendwie fühle ich, dass ich dort noch eine Rechnung offen habe, durch die ein Strich gemacht werden muss. Blödes Karma!
Der Lauf der Dinge
Wären die Dinge im September 1961 am Strand von Mondello anders gelaufen … Ich wäre berühmt gewesen und reich geworden. Genauer gesagt, meine Eltern wären reich geworden. Aber sie hätten das Geld für mich aufgehoben und es mir am 18. Geburtstag ausbezahlt.
Es war eine wunderbare Zeit. In der Konditorei Alba kaufte mir meine Mutter ein paar Topfenröllchen, in einer Bar am Corso Vittorio Emanuele trank ich mit meinem Vater ein prickelndes Lemon-Soda. Und in der Nacht sah ich Feuer am Himmel, weil sich der Vulkan wieder einmal über irgendetwas aufregte.
Untertags war der Strand von Mondello fast menschenleer, ich baute eine Burg im Sand, meine Mutter hielt ihre Beine in die Sonne, mein Vater las einen Roman von Max Frisch. Und dann begegnete ich meinem Karma. Es war eine große blonde Frau mit bronzefarbener Haut, blauem Badeanzug und schwarzer Sonnenbrille. Sie stand plötzlich vor mir und lächelte mich an: „Guten Tag. Ich heiße Helena, ich komme aus Deutschland, und wer bist du?“
Dann kamen zwei Männer über den Strand gelaufen, offenbar Freunde von Helena. Sie schwitzten und keuchten, weil sie schwere Taschen mit sich schleppten, aber als sie neben Helena standen und mich sahen, da verschwand ihre schlechte Laune. Sie umkreisten mich ein paar Mal und begannen zu lächeln.
Mein Vater wollte wissen, was die beiden Männer und die Frau von seinem Sohn wollten, und Helena gab ihm die Hand. Es stellte sich heraus, dass sie ein Kind haben wollten, das am Strand sitzt und eine Sandburg baut. Und in eine Kamera lächelt. Für einen Werbefilm, der in Kinos und im Fernsehen laufen würde. Und sie wollten Fotos machen, die in ganz Europa auf Plakatwänden, in Zeitungsinseraten und Katalogen zu sehen sein würden.
Nivea-Kind des Jahres
„Wir suchen für eine internationale Kampagne das ,Nivea-Kind des Jahres‘“, sagte Helena und ließ meinen Vater einen Vertrag unterschreiben. Man verabredete sich für den nächsten Morgen, „weil da die Sonne so schön schräg steht und das Licht für Film und Fotos perfekt sein wird“, wie Helena sagte, bevor sie mich freudig auf die Stirn küsste.
Meine Eltern waren stolz. Das „Nivea-Kind des Jahres“. Sie lachten und blätterten immer wieder im Vertrag – und dann schickten sie mich früh schlafen. Ich dachte an Helena und hörte beim Einschlafen eine Gelse ganz knapp an meinem linken Ohr vorbeifliegen.
Am nächsten Morgen stand die Sonne schön schräg, die beiden Männer hatten eine Kamera mit Stativ aufgebaut, die schöne Helena hatte Nivea-Dosen mitgebracht und im Sand verteilt wie zufällige Muscheln, und als meine Eltern und ich an den Strand kamen, wurde minutenlang kein Wort gesprochen. Diese Stille dauerte ewig. Helena und ihre Begleiter waren schockiert. Es war die pure Katastrophe. Ich sah aus wie ein Aussätziger aus den Slums von Kalkutta. Offenbar hatten sich in der Nacht Dutzende blutgieriger Gelsen über mich hergemacht und mich von Kopf bis Fuß zerstochen. Und ich kratzte mich andauernd, weil es so juckte.
„Das ist Schicksal“, sagte Helena kalt, „da kann man nichts machen.“
Jetzt liege ich im Schatten eines Zitronenbaums und denke über mein Leben nach. Nirgendwo in Europa ist der Himmel so seltsam blau wie über Sizilien. Meine Zimmerwirtin setzt sich neben mich und lächelt mich an: „Ich bin jedes Mal sehr froh, wenn du hier bist, Giorgio. Ich glaube, es ist Schicksal, dass wir uns begegnet sind.“
Dann schenkt sie mir eine Zitrone aus dem duftenden Garten hinter ihrem Haus. Die Zitrone ist saftig und süß, weil sie reif ist. Und alles ist gut.
Info
Der Autor
Georg Biron (geb. 1958, Wien) ist seit den 1970ern Teil der heimischen Literaturszene. Er schrieb 30 Bücher (zuletzt die Biographie „Der Herr Udo. Das wilde Leben des Udo Proksch“, Wieser Verlag), für deutsche (u.a. Playboy, Die Zeit) und österreichische Medien sowie Drehbücher für Film und Fernsehen. Biron reiste und lebte jahrelang im Ausland.
Buchtipp und Präsentation
„Birons Welt – 20 Short Storys von unterwegs“, Georg Biron, 214 Seiten, Hardcover, Wieser Verlag, 21 €. Am 6. April liest Biron daraus bei Thalia 1060 (ab 19 Uhr, Mariahilfer Straße 99, Eintritt frei)
Zu gewinnen
KURIER ReiseGenuss verlost drei Exemplare: Einsendungen dafür an reise@kurier.at