Sie sah viele Männer weinen
Von Uwe Mauch
Persönliche Erfahrungen im Grenzbereich, etwa im Hafen der westtürkischen Stadt Ayvalık: Noch vor zwei Stunden hat sie mit Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan gesprochen. Über ihre bevorstehende Schlauchbootfahrt, die Angst, dass sie die griechische Insel Lesbos nicht lebend erreichen werden. Auch über ihr Leben vor der Flucht. Jetzt sitzt Nermin Ismail auf diesem großen fast menschenleeren Fährschiff, das sie zügig, gefahrenlos nach Europa bringt.
Und immer wieder diese persönlichen Erfahrungen! Auch vor dem Grenzübergang Spielfeld, wo sie auf beiden Seiten der Zäune zuerst als junge Frau auf der Flucht wahrgenommen wurde – von den Wartenden im Pulk ebenso wie von den Kontrollierenden in den Uniformen. Doch im Gegensatz zu den Wartenden, für die die Politik inzwischen Obergrenzen eingezogen hat, kann sie sich in ihrer Mutter- und der Sprache der Österreicher perfekt mitteilen. Und einen Pass der Europäischen Union besitzt sie auch.
Sie sah auch Männer weinen
Eine weitere positive Erfahrung für Nermin Ismail: "Dass meine Sprachkompetenz als Chance begriffen wurde." Nicht nur von den Dienst habenden Beamten: "Endlich wurde ich gebeten, Arabisch zu sprechen." Endlich konnten aber auch arabisch sprechende Flüchtlinge loswerden, was sie seit Monaten bedrückt. Endlich hörte ihnen wer zu: "Ich erinnere mich an einen Mann, der immer wieder aus der Warteschlange austrat. Er sei auf der Suche nach seiner Tochter, erklärte er mir auf mein Nachfragen. Er hatte sie zuletzt im Schlauchboot in der Ägäis gesehen." Tränen. Sie sah auch Männer weinen: "Da musste ich meine eigenen Vorurteile revidieren. Manchmal habe ich mir gedacht, dass sie keine Übersetzerin benötigen, sondern viel mehr psychologische Betreuung."
Die Idee, ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben, ist im Laufe ihrer Arbeit mit den Flüchtlingen entstanden: "Weil so viele Menschen mich gebeten haben, dass ich meinen Landsleuten erzählen soll, dass sie mit guten Absichten in ihr Land kommen wollen. Dass sie sich nach Demokratie und Gleichberechtigung sehnen und nicht nach einem Islamischen Staat. Ich wollte ihnen daher eine Stimme geben, die sagen möchte, dass Flüchtlinge vor der Angst fliehen und selbst keine neuen Ängste erzeugen möchten."
Sie traf Hilfesuchende mit offenen Wunden, die sie zuvor nur in Filmen gesehen hatte. Sprach mit Todtraurigen nach ihren Suizidversuchen. Öfters klammerten sich ältere Frauen an sie, flehend: "Tochter, bleib’ bitte da!" In Traiskirchen fragten wiederum syrische Diplomaten: "Wie kann man uns das antun?"
Gesten, die uns nichts kosten
Schwer fällt in solchen Momenten das Trösten. Wie soll man glaubhaft machen, dass alles wieder gut wird? Und wie soll man jenen begegnen, denen zwar die Flucht geglückt ist, die aber jetzt in einem schwarzen Loch versinken, weil sie alles hinter sich lassen mussten und hier keine Arbeit, keine neue Aufgabe, keine Ruhe, keine Normalität finden können? Die Antwort darauf ist einfacher als befürchtet: "Oft sind es kleine Gesten, die uns nichts kosten, die aber viel Positives bewirken können. Jeder kann etwas tun, um das Gemeinwohl zu fördern. Das Mindeste ist für mich, dass ich den Ankommenden zuhöre."
Die junge Wienerin, die Politikwissenschaft und Pädagogik studiert hat, vergisst nicht, ihren Eltern für deren Weitsicht zu danken. Ihre beiden Schwestern, ihr Bruder und sie mussten während der Schulzeit regelmäßig mit einem Lehrer Arabisch lernen: "Wir haben das damals wirklich nicht gerne getan. Heute bin ich froh und dankbar, dass ich neben dem Deutschen auch meine Muttersprache beherrsche."
DAS BUCH
Nermin Ismail: Etappen einer Flucht, Tagebuch einer Dolmetscherin mit zahlreichen berührenden Fotografien von Simon van Hal, Verlag Promedia, 240 Seiten, 19,90 €.
Am Montag ab 19.30 Uhr im Aktionsradius Wien, 1200 Wien, Gaußplatz 11. Mit Karl-Heinz Grundböck vom Bundesministerium für Inneres und Christoph Riedl von der Diakonie Österreich.