Von alten Menschen das Leben lernen
Von Ingrid Teufl
Ein abgegriffener Überseekoffer hat einen Ehrenplatz in Sonja Schiffs Wohnung. Er gehörte einem betagten Herrn, den sie als Altenpflegerin intensiv betreute. Der Mann hatte als einziger seiner Familie den Holocaust durch Flucht überlebt und später in den USA seine Söhne im Vietnamkrieg verloren. Als seine Frau starb, kehrte er nach Österreich zurück. Mit seinem Überseekoffer, den er Sonja Schiff vermachte.
Für sie ist er heute, nach 27 Jahren in der Altenpflege, ein Symbol – dafür, was man von alten Menschen über das Leben lernen kann. Das hat die 51-Jährige in einem Buch gesammelt. „Ein Buch über das Leben“, betont sie.
KURIER: Altenpflege hat den Ruf von schwerer Arbeit. Bei Ihnen klingt es nach Bereicherung. Was ist so spannend daran?
Sonja Schiff:Für mich ist es der coolste Job der Welt, weil ich viele besondere Persönlichkeiten kennenlernen durfte. Aber cool ist dabei nicht gleichbedeutend mit leicht. Natürlich gibt es auch weniger angenehme Arbeiten in der Altenpflege, aber die Körperpflege macht nur einen kleinen Teil aus. Es gibt ebenso Menschen, die einen psychisch total mitnehmen. Wir können auch nicht jedem Betreuten die Zeit widmen, die er brauchen würde. Aber wichtig erscheint mir, jene besonderen Momente zu erkennen, in denen das Gegenüber vielleicht ein Gespräch braucht und sich auch die Zeit dafür nehmen.
Solche Momente muss man aber erst einmal erkennen. Muss man dafür nicht auch sehr bei sich selbst sein?
Vieles habe ich erst im Nachhinein verstanden. Es geht um eine empathische Grundhaltung. Das heißt, zuhören und sich ein Stück in diesen Menschen und seine Situation hineinfühlen. Dadurch kann man auch etwas für sich selbst mitnehmen und vom Leben anderer durchaus etwas lernen. Eine für mich sehr prägende Einsicht war, dass die Seele kein Alter kennt. Eine sehr alte Frau sagte einmal zu mir: „Wissen Sie, innen drin wird man nicht alt.“ Damit konnte ich selbst erst mit Mitte 40 etwas anfangen.
Was sind die wirklich wichtigen Dinge im Leben?
Einiges ist mir im Lauf der Jahre immer wieder begegnet: Ich selbst sein, meine Talente leben, Unklarheiten klären, Versöhnung suchen, Trauer leben. Wer das beherzigt hatte, konnte auch gelassen sterben.
Ändert der Umgang mit alten Menschen die Sichtweise auf Leben und Sterben an sich?
Jeder lebt sein eigenes Leben und wird selbst mit den großen Fragen konfrontiert. Wir lernen aber erst durch das Leben selbst, wie das wirklich geht. Das Sterben hingegen, das bleibt für uns alle ein Mysterium. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Ich finde es tröstlich, dass wir am Ende des Lebens wieder alle gleich sind. Der Tod bringt die Gerechtigkeit zurück.
Müssen wir uns vor dem Altwerden fürchten?
Ich fürchte mich nicht davor. Ich habe aber wie andere Angst zu leiden oder lange pflegebedürftig zu sein. Falls letzteres eintritt, will ich gerüstet sein. Mein Haus ist schon jetzt barrierefrei. Ich habe zu oft gesehen, dass alte Menschen wegen fehlender Einrichtungen ihr Zuhause verlassen müssen. Aber ich habe auch 100-Jährige gesehen, die mit ganz wenig Unterstützung selbstständig lebten. Daran orientiere ich mich. Ich werd’ mir sicher noch Herausforderungen suchen. Und hab mir vorgenommen, mir meinen Humor und meine Neugierde zu behalten.
Buchtipps
Sonja Schiff, 10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte. Einsichten einer Altenpflegerin. Erschienen im Verlag edition a, 19,95 Euro
Inge Friedl, Was sich bewährt hat. Begegnung mit alter Lebensweisheit. Erschienen im Verlag styria premium, 19,90 Euro