Mutterschaft: "Hört auf, die Schwangerschaft zu moralisieren"
KURIER: Wie ist die Idee zu Ihrem Buch entstanden?
Angela Garbes: Begonnen hat alles mit einem Artikel, den ich über Muttermilch und die Debatte darüber geschrieben habe – der sich überraschend viral verbreitet hat. Wenn es ums Stillen geht, sind Mütter einem enormen Druck ausgesetzt. Sie hören von allen Seiten, wie wichtig Muttermilch für die Gesundheit des Babys ist. Über die biologischen Hintergründe erfahren sie meist wenig. Bei der Recherche ist mir auch aufgefallen, wie viele wissenschaftliche Erkenntnisse es zum Thema Schwangerschaft im Allgemeinen gibt, die die Bevölkerung nicht erreichen. Am Erfolg des Artikels konnte ich außerdem ablesen, dass es ein breites Interesse an dem Thema gibt. Für das Buch habe ich den Ansatz, den ich bei dem Still-Artikel verfolgt habe, auf alle möglichen Aspekte ausgedehnt, etwa Fehlgeburten, die Plazenta, die Wehen und das Wochenbett.
Worin unterscheidet es sich von anderen Schwangerschaftsratgebern?
Die meisten Ratgeber bieten wertvolle Informationen. Allerdings werden Mütter und Väter darin oft mit Anweisungen und Vorschreibungen konfrontiert, anstatt ihnen einfach umfassende Information zur Verfügung zu stellen. Die Gesellschaft neigt dazu, Schwangerschaft und Mutterschaft zu moralisieren – bestimmte Verhaltensweisen sind dann "gut" oder eben "schlecht". Ich würde mir wünschen, dass wir von diesen starren Moralvorstellungen wegkommen und Frauen erlauben, selbstbestimmte, individuelle Entscheidungen zu treffen.
Welche Rolle spielt Feminismus dabei?
Ich hatte nicht vor, ein explizit feministisches Buch zu schreiben. Als ich allerdings zu Frauengesundheit und Fortpflanzungsmedizin recherchiert habe, fiel mir auf, dass wir in vielen Bereichen über nahezu kein fundiertes Wissen verfügen. Vielmehr haben sich über die Jahrzehnte gewisse Annahmen über das, was in den neun Monaten vor, während und nach der Geburt im Körper der Frau passiert, im kollektiven Gedächtnis einzementiert.
Worauf ist das zurückzuführen?
Das hat vor allem damit zu tun, dass Frauengesundheit in der Wissenschaft lange Zeit als nicht wichtig genug angesehen wurde, um sie entsprechend zu erforschen. Wenn man sich auf die Definition von Feminismus, also darauf, dass Frauen und Männer gleich sind und Frauen auch dasselbe Maß an Respekt verdienen, beruft, erkennt man sehr schnell, wie weit wir davon entfernt sind. Es ist gewissermaßen eine Schande, dass ich den Begriff "Feminismus" überhaupt im Titel des Buches erwähnen musste – aber das ist die Realität, in der wir leben und ich wollte das nicht leugnen.
Was sind die gängigsten Mythen und Irrtümer über die Schwangerschaft und Geburt?
Da gibt es viele. Ich konzentriere mich in meinem Buch hauptsächlich auf den allgemeinen Irrglauben, dass es nur eine "richtige" Antwort auf alle relevanten Fragen gibt. Ein großes Tabu sind Fehlgeburten. Weil oft darüber geschwiegen wird, denken viele Frauen, dass sie mit ihrer Erfahrung allein sind und diese auch allein durchstehen müssen. Hinzu kommen Schuldgefühle und Selbstzweifel. Die Wahrheit ist, dass Fehlgeburten bei bis zu 25 Prozent aller Schwangerschaften und damit recht häufig vorkommen. Der Großteil aller Fehlgeburten ist zudem durch genetische Faktoren bedingt und liegt damit nicht in der Verantwortung der werdenden Mutter.
Stichwort Tabus: Worüber und warum wird noch geschwiegen?
Meiner Meinung nach wurzeln nahezu alle Tabus in der Tatsache, dass sich die Gesellschaft unwohl dabei fühlt, über Frauenkörper zu sprechen. Also über die Vagina, Brüste, den Uterus, die Gebärmutter, Blut, Muttermilch und so weiter. Als Gesellschaft fühlen wir uns zwar sehr wohl damit, weibliche Körper zu kritisieren, objektifizieren und sexualisieren – über Genitalien oder Reproduktionsorgane schweigen wir aber lieber. Hinzu kommt, dass weibliche Körper noch immer nicht ausreichend dafür wertgeschätzt werden, was sie im Zuge der Schwangerschaft und Geburt leisten – nämlich neues Leben hervorbringen.
Gewalt in der Geburtshilfe betrifft weltweit unzählige Frauen und ist dennoch gesellschaftlich tabuisiert. Was braucht es, damit Frauen ihre Selbstbestimmtheit im Kreissaal bewahren können?
Die Versorgung ist hier zentral – und damit meine ich eine medizinische Versorgung, die schwangere Frauen nicht nur als Patientinnen sieht, sondern als Individuen, die ein Recht darauf haben, Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen. Wenn man Frauen ihr Recht auf ihren eigenen Körper abspricht, nimmt man ihnen schlicht die Chance auf eine erfüllte Geburtserfahrung.
Heutzutage suchen viele werdende Mütter in sozialen Netzwerken nach Tipps und Anregungen. Was bringt das – und was nicht?
Der entscheidende Vorteil sozialer Medien ist in diesem Kontext die Demokratisierung von Information. Bilder, Bücher, Zitate, Ideen und Informationen können sehr vielen verschiedenen Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten zugänglich gemacht werden. Daraus formieren sich themenspezifische Netzwerke, die Kommunikation und Austausch ermöglichen. Diese Form der Vernetzung ist gerade für werdende Mütter, die sich an irgendeinem Punkt in ihrer Schwangerschaft womöglich überfordert und alleingelassen fühlen, wichtig. Problematisch sind die neuen Medien vor allem in Bezug auf die mangelnde Diversität, die dort gezeigt wird.
Richten Sie sich mit Ihrem Buch auch an werdende Väter?
Mein Buch richtet sich natürlich in erster Linie an Frauen. Allerdings finde ich es sehr wichtig, auch Männer in die Debatte über Schwangerschaften miteinzubeziehen. Immerhin sind wir als Gesellschaft, die sich gesunde Folgegenerationen wünscht, gemeinsam für das Wohl ebendieser verantwortlich.
Was möchten Sie bei Ihren Leserinnen bewirken?
Ich möchte das Selbstvertrauen meiner Leserinnen stärken und sie ermutigen, für sich selbst Partei zu ergreifen und zu ihren eigenen Entscheidungen zu stehen. Und ich wünsche mir, dass schwangere Frauen erkennen, dass nicht nur ihr Baby Priorität hat – sondern auch sie selbst.