Leben/Gesellschaft

Seit 100 Jahren nichts als Ärger auf dem Brett

Beruhigungsmittel für drei bewegungshungrige Kinder – als das war es ursprünglich gedacht. Damit der Nachwuchs nicht wild durch die kleine Münchner Wohnung tobt, hat Vater Josef Friedrich Schmidt für seine Söhne und die Tochter ein Brettspiel erfunden: "Mensch ärgere Dich nicht". Das erste gelbe Brett bastelte der damals junge Bayer aus einer Hutschachtel. "Lieber wütende Kinder am Tisch als hyperaktive im Haus", hatte sich der Vater wohl gedacht.

Das war vor 100 Jahren. Dass aus dieser Spielidee ein Klassiker werden sollte, der mittlerweile 90 Millionen Mal verkauft wurde, hat vor allem mit dem Marketing-Talent des bayerischen Unternehmers zu tun. Zu Beginn wollte das Brett samt Zinnfiguren nämlich niemand haben.

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Doch der findige Schmidt glaubte an seine Idee und überlegte, bei wem "Mensch ärgere Dich nicht" ein Renner werden könnte. Lange musste er im Jahr 1914 – der 1. Weltkrieg hatte begonnen – nicht überlegen: Die vielen verletzten Soldaten in den Lazaretten waren dankbar für jede Abwechslung im Spitalsalltag. Schmidt schickte also 3000 Exemplare an die Krankenlager. Bei den Soldaten war das Spiel bald populär. Ein Klassiker war geboren. Nach dem Krieg kannte es jeder: 1920 wurde es eine Million Mal verkauft, was auch am Preis lag. 35 Pfennig pro Spiel – so viel kostete ein halbes Kilo Zucker.

Wie eine Waschmaschine

"Mensch ärgere Dich nicht" gehört bis heute zur Grundausstattung jedes Haushalts – fast wie eine Waschmaschine. Ist es kaputt, schafft man sich ein neues an. Davon ist Dagmar De Cassan überzeugt, die Grande Dame der österreichischen Spieleszene: "Dass es zu einem solchen Klassiker wurde, konnte damals natürlich niemand vorhersehen. Doch das Spiel hat viele Faktoren, die ein Klassiker braucht." De Cassan ist Vorsitzende der Wiener Spieleakademie und testest deshalb Spieleneuheiten – aus Leidenschaft und mit Profession. Sie weiß, was "Mensch ärgere Dich nicht" zum Spiel der Spiele macht: "Ganz wichtig für ein beliebtes Brettspiel – es muss Fehler verzeihen." Wirklich? Ein Spiel, dessen Namen Programm ist und Wutanfälle erzeugt, verzeiht einen falschen Spielzug? "Ja", sagt de Cassan: "Haben Sie ’mal einen Mitspieler nicht herausgekegelt oder sind sie mit dem falschen Männchen gezogen, heißt das noch lange nicht, dass sie verloren haben." Überhaupt fällt das Verlieren nur halb so schwer: "Am Ende kann der Unterlegene sagen, dass der Würfel Schuld war. Während sich der Gewinner stolz auf die Brust klopfen kann, weil er sich als geschickter Stratege erwiesen hat."

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Wobei: Strategie ist hier weniger gefragt. Und auch die Regeln sind simpel: "Genau darin liegt der Reiz. Wenn man abends noch ein bisserl Spaß haben will und sich nicht mehr groß anstrengen möchte, ist das genau das Richtige." Ein weiterer Erfolgsfaktor: "Das Spiel bevorzugt keinen in der Familie. Muss man z. B. in einem Spiel gut zeichnen oder formulieren können, ist immer einer benachteiligt. Und die Lust schwindet." Da weckt Schmidts Klassiker schon mehr Emotionen: "Eine Portion Schadenfreude ist da immer dabei", sagt de Cassan.

Erinnerungen an die Kindheit

Es sind wohl diese Emotionen, die dazu führten, dass die Verwundeten-Beschäftigung von damals zum traditionsreichsten Spiel in deutschen und österreichischen Familien wurde: "Fast jeder weiß noch, wie er sich mit den Eltern und Geschwistern an ein Brett gesetzt hat. Für viele eine positive Erinnerung, die sie an die nächste Generation weitergeben wollen." Auch de Cassan verbindet mit dem gelben Brett Nostalgisches: "Mein Vater bestand immer darauf, mit schwarzen Kegeln zu spielen. Deshalb mussten wir stets die Variante für sechs Spieler nehmen, was mich manchmal genervt hat." Gute Nerven brauchen Würfelwütige auch bei der Mensch-ärgere-Dich-nicht-Weltmeisterschaft, die heuer beim Spielefest vom 14. bis 16. November in Wien ausgetragen wird.

Josef Friedrich Schmidt schaffte mit dem Spiel den Durchbruch als Unternehmer – und zwar für Generationen. "Mensch ärgere Dich nicht" war mehr als eine Beruhigungspille für die Kinder Franz, Karl und Marta. Sie und ihre Nachfahren führten die Firma bis zu ihrem Verkauf an eine Berliner Holding im Jahr 1997.